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Therapiekritik

WAS BRINGT DIE STRAFFE BLUTZUCKEREINSTELLUNG BEI TYP-2-DIABETES?

Ältere Patienten mit länger bestehendem Typ-2-Diabetes profitieren nach den drei 2008 und 2009 publizierten Langzeitinterventionsstudien ACCORD*, ADVANCE* und VADT* nicht von einer normnahen Blutzuckereinstellung. In der ACCORD-Studie geht diese Strategie sogar mit signifikant höherer Sterblichkeit einher (a-t 2008; 39: 73-6 und 2009; 40: 13).1-3 Die Ergebnisse dieser Studien, die in auffallendem Gegensatz stehen zu den Empfehlungen nationaler und internationaler Fachgesellschaften, haben die jahrzehntelange kontroverse Debatte um die Blutzuckertherapie bei Typ-2-Diabetes neu entfacht.

* ACCORD = Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes;
ADVANCE = Action in Diabetes and Vascular Disease: Preterax and Diamicron Modified Release Controlled Evaluation;
VADT = Veterans Affairs Diabetes Trial

Drei etwa zeitgleich publizierte Übersichten befassen sich jetzt mit diesem Thema.4-6 Alle drei werten die aktuellen Studien sowie die vor mehr als zehn Jahren publizierte UKPDS**7,8 (a-t 1998; Nr. 10: 88-90) aus, zwei Arbeiten zusätzlich die PROactive**-Studie9 mit dem Glitazon Pioglitazon (ACTOS; a-t 2005; 36: 95-6). Trotz des etwas unterschiedlichen Datenpools kommen alle drei Arbeiten zu ähnlichen Ergebnissen. Durch intensivierte Blutzuckersenkung wird nur das relative Risiko nichttödlicher Myokardinfarkte um rund 15% gemindert. Lebensverlängernd wirkt die Therapie nicht: Kardiovaskuläre Todesfälle und Todesfälle insgesamt sind numerisch unter der intensiven Behandlung sogar etwas häufiger.4,5 Nach einer der drei Arbeiten, in der auch harte klinische mikrovaskuläre Endpunkte betrachtet werden, sprechen die Daten nicht dafür, dass diese Zielkriterien relevant beeinflusst werden.6 Schwere Hypoglykämien und das Körpergewicht nehmen durch die Intervention aber deutlich zu.4-6

** PROactive = PROspective pioglitAzone Clinical Trial In macroVascular Events;
UKPDS = United Kingdom Prospective Diabetes Study

Angesichts der großen Unterschiede zwischen den ausgewerteten Studien im Hinblick auf Patienten, Blutzuckerzielwerte und verwendete Strategien scheint es uns allerdings fraglich, inwieweit sich aus den gepoolten Daten überhaupt sinnvolle Schlüsse ziehen lassen. In der PROactive-Studie waren unterschiedlich strenge Blutzuckereinstellungen gar nicht angestrebt.9 Aber auch die UKPDS einerseits und die drei aktuellen Studien ACCORD, ADVANCE und VADT andererseits lassen sich unseres Erachtens nicht einfach auf einen Nenner bringen. Die Ergebnisse der UKPDS basieren auf einer über weite Strecken monotherapeutisch durchgeführten und vergleichsweise gemäßigten blutzuckersenkenden Strategie bei relativ jungen Patienten mit neu diagnostiziertem Diabetes (mittleres Alter bei Studienbeginn 53 Jahre; vgl. Seite 74). In den drei aktuellen Studien, die ältere Patienten mit länger dauerndem Diabetes einschließen (mittleres Alter bei Studienbeginn 60 bis 66 Jahre), werden dagegen rigorose blutzuckersenkende Strategien geprüft, die Vielfachkombinationen antidiabetischer Mittel vorsehen. Während ein gewisser Nutzen und die Sicherheit für die in der UKPDS gebrauchten monotherapeutischen Strategien mit Glibenclamid (EUGLUCON N, Generika), Metformin (GLUCOPHAGE, Generika) und Insulin im Frühstadium des Typ-2-Diabetes angenommen werden können, trifft dies für das Vorgehen in den drei aktuellen Studien mit älteren Patienten nicht zu. In zwei der drei Studien geht die intensive Therapie mit höherer Sterblichkeit einher. Von vielen der in diesen Studien verwendeten Antidiabetika und deren Kombinationen ist nicht bekannt, wie sie sich auf Folgeerkrankungen oder Sterblichkeit bei Diabetes auswirken,10 so etwa bei den Gliniden (a-t 2009; 40: 60)11 oder den vielen in der UKPDS nicht geprüften Sulfonylharnstoffen wie dem heute am häufigsten verordneten Abkömmling Glimepirid (AMARYL, Generika). Wie das Beispiel des Sulfonylharnstoffs Tolbutamid (außer Handel: RASTINON) zeigt, der in der UGDP****-Studie die kardiovaskuläre Sterblichkeit gesteigert hat,12 ist nicht von einem günstigen Klasseneffekt auszugehen. Gegenüber Rosiglitazon (AVANDIA) bestehen erhebliche Sicherheitsbedenken (a-t 2008; 39: 115), ebenso gegenüber der Kombination aus Metformin plus Sulfonylharnstoff.8

**** UGDP = University Group Diabetes Project

Selbst wenn die metaanalytische Auswertung der drei neuen Studien allein ebenfalls eine Minderung von Herzinfarkten unter intensiverer Blutzuckereinstellung ergeben sollte,13 bliebe unter anderem wegen der vielen Unbekannten in den verschiedenen verwendeten Strategien offen, ob dies (allein) auf eine HbA1c-Minderung zurückzuführen ist. Vor allem aber überwiegt der Schaden dieser Strategien bei den älteren Patienten durch Zunahme schwerer Hypoglykämien und durch Zunahme der Sterblichkeit.

∎  Nach drei kürzlich publizierten Übersichten randomisierter kontrollierter Studien einschließlich UKPDS, ACCORD, ADVANCE und VADT wird durch die strengere Blutzuckereinstellung bei Typ-2-Diabetes das relative Risiko nichttödlicher Herzinfarkte um rund 15% gesenkt, nicht aber das Leben verlängert. Kardiovaskuläre Sterblichkeit und Gesamtsterblichkeit sind unter der intensivierten Therapie numerisch sogar höher.

∎  Schwere Hypoglykämien und das Körpergewicht nehmen unter intensivierter Therapie deutlich zu.

∎  Durch das Poolen der sehr heterogenen Studiendaten geht unseres Erachtens der Blick für wesentliche Unterschiede verloren.

∎  Jüngere Patienten mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes, wie sie an der UKPDS teilgenommen haben, können von einer strengeren Blutzuckereinstellung mit den in dieser Studie geprüften Strategien profitieren, langfristig möglicherweise durch eine geminderte Sterblichkeit (vgl. Seite 74).

∎  Bei älteren Patienten und solchen mit länger bestehendem Typ-2-Diabetes, wie sie an ACCORD, ADVANCE und VADT teilgenommen haben, überwiegt der Schaden. Sie sind durch Übersterblichkeit gefährdet.

∎  Wir raten bei älteren Patienten, solchen mit länger bestehendem Typ-2-Diabetes oder mit kardiovaskulären Begleiterkrankungen, bei denen keine hyperglykämischen Beschwerden bestehen, von einer Senkung des HbA1c auf unter 8% mit einer Kombination mehrerer Antidiabetika einschließlich Insulin ab.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
R1 The Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes Study Group: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 2545-59
R2 The ADVANCE Collaborative Group: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 2560-72
R3 DUCKWORTH, W. et al.: N. Engl. J. Med. 2009; 360: 129-39
M4 RAY, K.K. et al.: Lancet 2009; 373: 1765-72
M5 MANNUCCI, E. et al.: Nutr. Metab. Cardiovasc. Dis. 2009; online publiziert am 7. Mai 2009
 6 MONTORI, V.M., FERNANDEZ-BALSELLS, M.: Ann. Intern. Med. 2009; 150: 803-8
R7 UK Prospective Diabetes Study Group: Lancet 1998; 352: 837-53
R8 UK Prospective Diabetes Study Group: Lancet 1998; 352: 854-65
R9 DORMANDY, J.A. et al.: Lancet 2005; 366: 1279-89
 10 LEHMAN, R., KRUMHOLZ, H.M. : BMJ 2009; 338: b800
 11 IQWiG: Glinide zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2, Abschlussbericht A05-05C vom 6. Apr. 2009
http://www.iqwig.de/download/A05-05C_Abschlussbericht_Glinide_zur_ Behandlung_des_Diabetes_mellitus_Typ_2.pdf
R12 UGDP: Diabetes 1982; 31 (Suppl. 5): 1-81
 13 RICHTER, B.: pers. Mitteilung vom 25. Juni 2009

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 1. August 2009

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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