logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 1996; Nr. 7: 65-6nächster Artikel
Im Blickpunkt

AUF DER SUCHE NACH DEM GOLDENEN EI -
NEUE INDIKATIONEN FÜR ALTARZNEIMITTEL

Arzneimittelforschung verläuft nicht immer in logischen, zielgerichteten Bahnen. Häufig steht der Zufall Pate, wenn neue Anwendungsbereiche erschlossen werden. Selbst für Thalidomid (CONTERGAN), Synonym der Arzneimittelkatastrophe schlechthin, nach dessen Einnahme gegen Schlafstörungen mehr als 12.000 Mütter Kinder mit Fehlbildungen der Gliedmaßen zur Welt gebracht haben, entstehen neue Indikationen: Als 1964 ein von schwersten Schmerzen geplagter Leprakranker in einem Jerusalemer Krankenhaus das noch in Resten vorhandene CONTERGAN erhielt, kam er nicht nur zur Ruhe. Auch seine Schmerzen und Hautknötchen nahmen ab.1 Heute gibt der Hersteller das inzwischen zur Behandlung der Leprareaktion zugelassene THALIDOMID GRÜNENTHAL unter strikten Auflagen ab zur Erprobung bei AIDS-Patienten mit schwerer Kachexie, Morbus BEHCET, Transplantat-Wirt- Reaktion, Stomatitis aphthosa, Urogenitalulzera und Lupus erythematodes.2

In Brasilien und anderen Regionen mit unzureichender Arzneimittelkontrolle und verbreiteter Lepra wächst indes eine zweite Generation von Kindern mit Thalidomid-Fehlbildungen heran, da gebärfähige Frauen von den regionalen Anbietern über die Risiken des patentfreien Mittels nicht oder nur unzureichend aufgeklärt werden.3

Das Jahrhundertarzneimittel ASPIRIN (ASS, Azetylsalizylsäure) fand weltweit zuerst als Schmerzmittel und – vor allem in den USA – gegen Rheuma Verbreitung sowie seit den 70er Jahren als Thrombozytenfunktionshemmer. Heute kann es als Kunstfehler gelten, wenn Personen mit Verdacht auf Herzinfarkt nicht unverzüglich Azetylsalizylsäure erhalten (a-t 4 [1994], 34). Auch Diabetiker mit Risikofaktoren profitieren von ASS, benötigen aber mit täglich 300 mg höhere Dosierungen als die sonst bei koronarer Herzkrankheit üblichen Tagesmengen bis 100 mg.4

Das Anwendungsspektrum des Klassikers erscheint unerschöpflich: Auf den Philippinen bewarb Bayer vor wenigen Jahren ASPIRIN zur Behandlung des grauen Stars.5 Größere kontrollierte Studien bestätigen erste positive Berichte allerdings nicht.6 Dauereinnahme über mindestens zehn Jahre soll das Risiko von Darmtumoren verringern.7 Zudem werden Azetylsalizylsäure Besserungen bei adenomatöser Polyposis zugeschrieben. Im Tierexperiment sinkt die Häufigkeit von Neubildungen der Haut. Solche Geschwülste gehen mit erhöhten Prostaglandinspiegeln einher, die sich im Tierversuch auch bei anderen chemisch induzierten Tumoren finden. Andere Hemmer der Prostaglandinsynthese werden ebenfalls geprüft. Auslösung der Apoptose (Stimulation zum Untergang von Tumorzellen) gilt als weiterer möglicher Wirkmechanismus.8

Nach Zufallsbefunden überleben Patienten mit Dick- bzw. Enddarmkrebs länger, wenn sie den H2-Antagonisten Cimetidin (TAGAMET u.a.) gegen Refluxösophagitis erhalten haben.9 Unter anderem könnte Cimetidin die Aktivität von peritumoralem Histamin blockieren, das Tumorwachstum fördert und die lokale Immunantwort abschwächt.10 Ranitidin (ZANTIC u.a.) bessert in einer kleinen Studie Psoriasis.11

Pilotstudien sollen den Nutzen von Clotrimazol (CANESTEN u.a.) bei malignen Hauterkrankungen prüfen, seitdem bekannt ist, daß das Antimykotikum in vitro die Proliferation neoplastischer Zellen hemmt und nach Tierversuchen ein Nutzen in der Karzinombehandlung möglich erscheint.12 Das Krebsmittel Methotrexat (METHOTREXAT LEDERLE u.a.) wiederum kommt in Kombination mit dem abortiv wirkenden (a-t 5 [1991], 46) Ulkusmittel Misoprostol (CYTOTEC) als Alternative zu invasiven Methoden für den Abbruch einer Frühschwangerschaft ins Gespräch.13

Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen lassen sich therapeutisch verwerten. Das Antimykotikum Ketoconazol (NIZORAL) erhöht die Serumspiegel des Immunsuppressivums Ciclosporin A (SANDIMMUN), indem es dessen Verstoffwechselung in der Leber hemmt. Dies ließe sich gezielt nutzen: Für Patienten nach Herztransplantation sinkt der Bedarf an dem teuren Immunsuppressivum durch die Komedikation um 80%. Australische Autoren errechnen eine jährliche Kosteneinsparung von bis zu 7.000 DM pro Patient. Die Häufigkeit von Abstoßungsreaktionen und Infektionen nimmt ab.14 Wird die Ciclosporin-A-Dosis jedoch nicht angepaßt, besteht Gefahr einer Nierenschädigung. Dies gilt auch für gleichzeitigen Genuß von Pampelmusensaft, der ebenfalls die Ciclosporinspiegel erhöht. Da die Bestandteile des Getränks nicht standardisiert sind, eignet es sich nicht zur gezielten "Komedikation".

Der umstrittene "Durchblutungsförderer" Pentoxifyllin (TRENTAL u.a.) könnte in neuem Licht erscheinen. In einer Pilotstudie bessert er bei drei Personen die mit Aphthen und Augensymptomen einhergehende Multisystemerkrankung Morbus BEHCET.15 Das Methylxanthin soll zudem die erwünschten immunsuppressiven Eigenschaften von Kortikoiden und Ciclosporin A derart verstärken, daß dank niedrigerer Dosierungen deren Verträglichkeit steigt.16 Läßt sich daher die Verwendung von Pentoxifyllin bei einer umstrittenen Indikation noch rechtfertigen? In der Roten Liste '96 fehlt eine Warnung vor verstärkten Wirkungen von Immunsuppressiva durch Interaktion mit Pentoxifyllin.

FAZIT: Die Kosten für Forschung und Entwicklung eines neuen Arzneimittels beziffern Hersteller auf bis zu 250 Millionen DM. Ungeahntes Potential bergen bereits etablierte Wirkstoffe, wenn Zufallsbefunde aus der Praxis und Wissen aus Biochemie und Pharmakologie durch klinische Studien abgesichert werden. Lassen sich durch Zufall oder systematische Suche neue Anwendungsbereiche erschließen, ist dies nicht nur ökonomisch, sondern auch in den Folgen überschaubarer, da wesentliche Eigenschaften des Arzneimittels schon bekannt sind.


© 1996 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 1996; Nr. 7: 65-6nächster Artikel