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AMYOTROPHE LATERALSKLEROSE –
HOFFNUNG AUF NEUE MEDIKAMENTE?

Ein halbes Jahr nach Einführung in den USA hat jetzt auch die europäische Arzneimittelbehörde EMEA den Glutamat-Antagonisten Riluzol (RILUTEK) als erstes Medikament zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) zugelassen.1 Für die unaufhaltsam fortschreitende Erkrankung gibt es bis heute keine Heilung. Aus unbekannter Ursache gehen motorische Nervenzellen des Rükkenmarks, des Hirnstamms und der Hirnrinde zugrunde. Die Kranken leiden gleichzeitig an schlaffen (peripheren) Lähmungen mit Muskelschwund und spastischen (zentralen) Paresen mit gesteigerten Reflexen und Pyramidenbahnzeichen. Im Hirnstamm degenerieren vor allem Zungen- und Schlundmuskulatur versorgende Nerven. Das Sprechen wird undeutlich. Schluckbeschwerden erschweren die Nahrungsaufnahme (Bulbärparalyse). Mehr als 3.000 Menschen sind hierzulande betroffen. Etwa jeder zweite stirbt innerhalb von drei Jahren nach Ausbruch der Erkrankung an den Folgen der Ateminsuffizienz oder Komplikationen wie Aspirationspneumonie.2,3

Riluzol – ein Benzothiazolabkömmling, der mit antikonvulsiv wirkenden Pharmaka (Sabeluzol u.a.) strukturell verwandt ist – wurde unter der Vorstellung erprobt, daß ein gestörter Glutamatstoffwechsel mit Anhäufung des erregenden Botenstoffs die Nervenzellen bei ALS schädigt.4 Prüfungen mit anderen Glutamat-Antagonisten wie dem Antiepileptikum Lamotrigin (LAMICTAL) sowie mit verzweigtkettigen Aminosäuren, die ein glutamatumsetzendes Enzym aktivieren sollen, verliefen zuvor enttäuschend.5

Auch an der Wirksamkeit von Riluzol bestehen Zweifel: In der größten publizierten Untersuchung6 erhalten knapp 1.000 ALS-Kranke pro Tag 50 mg, 100 mg oder 200 mg Riluzol oder Plazebo. Nach 18 Monaten leben unter täglich 100 mg 6 bis 7 pro 100 Patienten mehr ohne Tracheostomie (56,8% vs. 50,4%). Ein signifikanter Unterschied zum Scheinmedikament läßt sich zu diesem Zeitpunkt nur durch Zusammenfassen der Daten von zwei Interventionsgruppen oder durch Adjustierung nach prognostischen Faktoren sichern.6,7 Diese waren demnach nicht gleichmäßig über die vier Behandlungsgruppen verteilt: Die Randomisierung (das Schema bleibt geheim) ist mißlungen.8 Beim Vergleich der Studienzentren fällt auf, daß nur Patienten in Frankreich und Belgien profitieren, nicht aber im übrigen Europa oder in den USA.9 Die nicht-adjustierten Ergebnisse werden in der Lancet-Publikation nicht mitgeteilt,6 lösten aber bei der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA Verdacht auf Verzerrung ("bias")8 aus. In einer kleineren Vorläuferstudie bleibt der Nutzen auf Teilnehmer mit Bulbärparalyse als erstem Krankheitszeichen beschränkt.4 Andere Ausgangsbedingungen in dieser kleinen Subgruppe könnten hier einen therapeutischen Effekt vorgetäuscht haben.10,11,12 Das Beratergremium der FDA hat nach Anhörung verzweifelter Betroffener mit knapper Mehrheit für die Zulassung des Mittels gestimmt.13 Unter den Anwendungsfolgen dominieren Übelkeit, Erbrechen und Schwäche.6,14 3% bis 6% brechen die Studien wegen Leberschädigung ab.4,7

Nach Mitteilungen der Firma Cephalon soll auch der insulinähnliche Wachstumsfaktor 1 (IGF-1, Somatomedin) den Krankheitsverlauf der ALS verzögern. In zwei europäischen und US-amerikanischen Phase-III-Studien habe sich in den Behandlungsgruppen nach neun Monaten Schlucken, Sprechen, Atmung und Muskelkraft um 22% bzw. 25% weniger verschlechtert als unter Plazebo – gemessen an einer Skala zur Einschätzung des ALS- Schweregrads.15,16 In Europa liegt die Sterblichkeit unter Verum jedoch fast doppelt so hoch wie unter Scheinmedikament. Zu Jahresbeginn erhebt ein Cephalon-Anteilseigner Klage gegen den Hersteller: In der amerikanischen Untersuchung seien nicht alle Todesfälle dokumentiert worden. Mitarbeiter der Firma sollen vom steigenden Kurs der Aktien profitiert und – so die Anschuldigung – die fehlerhaften Protokolle der Phase-III-Studie geduldet haben.17 Die FDA stoppte daraufhin zunächst den Plan, den Wachstumsfaktor als "Investigational New Drug" (IND) zuzulassen, gibt jetzt jedoch IGF-1 als IND für Prüfungen an ALS-Patienten frei. Für eine Marktzulassung (vorgesehenes Warenzeichen MYOTROPHIN) reichten die Daten indes nicht aus.18

FAZIT: Auf zwei Medikamente zur Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose, einem Leiden mit noch immer infauster Prognose, richten sich Erwartungen. Der Glutamat-Antagonist Riluzol (RILUTEK) ist seit Ende Juni in Deutschland zu monatlichen Kosten von 1013 DM für täglich 100 mg erhältlich. An der methodischen Zuverlässigkeit der vorgelegten klinischen Prüfungen wie auch an der klinischen Relevanz der Ergebnisse bestehen Zweifel. Zu den günstigen Daten für den insulinähnlichen Wachstumsfaktor 1 (IGF-1, Somatomedin) tragen möglicherweise fehlerhafte Studienprotokolle bei.


© 1996 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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