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IMMUNSUPPRESSIVUM FINGOLIMOD (GILENYA) PER OS BEI MULTIPLER SKLEROSE

Seit April ist mit Fingolimod (GILENYA) ein neues Immunsuppressivum zur Monotherapie Erwachsener mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose (MS) in Deutschland im Handel. Fingolimod darf ähnlich wie der Integrinhemmer Natalizumab (TYSABRI; a-t 2006; 37: 69-71) nur verwendet werden, wenn trotz ausreichend langer Therapie mit einem Betainterferon eine hohe Krankheitsaktivität besteht oder wenn eine rasch fortschreitende schwere Erkrankung vorliegt.1 Fingolimod wurde ursprünglich in höheren Tagesdosierungen zur Prävention von Transplantatabstoßungen nach Nierentransplantation entwickelt. Wegen ungünstiger Nutzen-Schaden-Bilanz mit stärkerer kardiovaskulärer und pulmonaler Toxizität sowie häufigeren Makulaödemen im Vergleich zu Mycophenolatmofetil (CELLCEPT, Generika) wurde die Entwicklung in dieser Indikation gestoppt.2 Anders als die etablierten Basistherapeutika bei MS wie Betainterferone wird Fingolimod per os eingenommen.

EIGENSCHAFTEN: Der aktive Metabolit des Prodrugs Fingolimod, Fingolimodphosphat, ist ein Sphingosin-1-Phosphat (S1P)-Rezeptormodulator. Er soll auf vier der fünf bekannten S1P-Rezeptoren wirken. Als funktioneller Antagonist von S1P-Rezeptoren auf Lymphozyten blockiert Fingolimodphosphat die Fähigkeit von Lymphozyten, aus lymphatischem Gewebe auszuwandern. Die Lymphozytenzahlen im peripheren Blut fallen infolge der Einnahme auf 20% bis 30% des Ausgangswerts. Nach Absetzen steigen die Zahlen wieder an, sind aber nach Daten aus dem MS-Programm drei Monate nach Absetzen im Mittel immer noch um etwa 20% erniedrigt. Der Wirkmechanismus bei MS ist nicht bekannt, er beruht möglicherweise auf Hemmung der Einwanderung pathogener Lymphozyten in das ZNS, die dort an der Entzündung und Schädigung von Nervengewebe beteiligt sind. S1P-Rezeptoren haben darüber hinaus eine Funktion insbesondere für die vaskuläre Permeabilität, den Gefäßtonus sowie für Angiogenese - auch beim Embryo - und Thrombogenese.1-4

KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Der Zulassung liegen zwei randomisierte kontrollierte doppelblinde Phase-III-Studien zu Grunde. An den beiden Studien haben insgesamt 2.564 Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose teilgenommen. Die Patienten sind im Mittel 36 bzw. 37 Jahre alt, haben eine Krankheitsdauer von durchschnittlich sieben bzw. acht Jahren, im Mittel zwei Schübe in den zwei Jahren vor Studienbeginn durchgemacht und einen mittleren EDSS*-Score von 2,2 bzw. 2,4. Aktive Infektion, Immunsuppression, Makulaödem und Diabetes mellitus gehören zu den wichtigsten Ausschlusskriterien. In beiden Studien werden sowohl die zugelassene Tagesdosis von 0,5 mg Fingolimod als auch eine höhere, nicht zugelassene Dosis von täglich 1,25 mg geprüft. In der einjährigen TRANSFORMS**-Studie wird Fingolimod mit dem einmal wöchentlich i.m. injizierten Interferon-beta-1a-Präparat AVONEX (30 µg/Woche) verglichen, in der zweijährigen FREEDOMS**-Studie mit Plazebo. In der TRANSFORMS-Studie sind insgesamt 57% der Teilnehmer mit einem Basistherapeutikum vorbehandelt, und zwar 49% mit einem Betainterferon, in der FREEDOMS-Studie 41%. Ob eine plazebokontrollierte Studie bei diesen Patienten zu rechtfertigen ist, scheint uns fraglich. Primärer Endpunkt ist in beiden Studien die jährliche Schubrate. Zu den wichtigsten sekundären Endpunkten gehört die Zeit bis zum Fortschreiten von Behinderungen, die mindestens drei Monate anhalten, definiert als Anstieg des EDSS-Scores um mindestens einen Punkt bzw. - bei Ausgangswert von 5,5 oder höher - um mindestens einen halben Punkt.2-6

* EDSS = Expanded Disability Status Scale: Skala von 0 = normaler neurologischer Befund bis 10 = Tod durch MS (vgl. a-t 2001; 32: 106)
** FREEDOMS = FTY720 Research Evaluating Effects of Daily Oral therapy in Multiple Sclerosis;
TRANSFORMS = Trial Assessing Injectable Interferon versus FTY720 Oral in Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis

In der FREEDOMS-Studie sinkt die jährliche Schubrate im Verlauf von zwei Jahren signifikant von 0,40 unter Plazebo auf 0,18 unter täglich 0,5 mg und auf 0,16 mg unter täglich 1,25 mg Fingolimod. In beiden Verumgruppen wird zudem die Zeit bis zum Fortschreiten von Behinderungen signifikant verlängert. Die Rate der Patienten ohne Schub bei Studienende (70% [0,5 mg] und 75% [1,25 mg] versus 46% [Plazebo]) und der Anteil der Patienten ohne Fortschreiten von Behinderungen (82% und 83% vs. 76%) ist in beiden Fingolimodgruppen signifikant höher.5

Auch gegenüber Interferon beta-1a senkt Fingolimod in TRANSFORMS die jährliche Schubrate signifikant. Sie beträgt unter täglich 0,5 mg 0,16, unter täglich 1,25 mg 0,20 und unter Interferon 0,33. Beim relevanteren Endpunkt, dem Fortschreiten von Behinderungen, findet sich jedoch kein Unterschied. 83% (0,5 mg), 80% (1,25 mg) bzw. 69% (Interferon) der Patienten sind bei Studienende ohne Schub (p < 0,001), 94%, 93% bzw. 92% ohne Fortschreiten von Behinderungen (p = 0,50).6 Der Vorteil von Fingolimod im Verumvergleich könnte überschätzt sein: AVONEX ist in mehreren direkten Vergleichen hinsichtlich der Schubrate bei schubförmiger MS auch den beiden anderen Betainterferon-Präparaten BETAFERON und REBIF unterlegen.7

Die Ergebnisse in post hoc gebildeten kleinen Subgruppen mit schwererer Erkrankung, die den zugelassenen Indikationsgebieten besser entsprechen sollen, sind konsistent mit denen in den Gesamtgruppen.3 Vergleiche mit Natalizumab, für das ähnliche Beschränkungen gelten, fehlen.

UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Das Studienprogramm zu Fingolimod lässt Risiken in einer Vielzahl von Organsystemen erkennen. Aufgrund der niedrigen Lymphozytenzahlen im peripheren Blut ist von erhöhter Infektionsgefahr auszugehen. Das Blutbild muss vor und während der Einnahme kontrolliert werden. Die Gesamtrate der Infektionen (72%) und schwerwiegenden Infektionen (2%) ist in Zulassungsstudien zwar nicht höher als unter Plazebo. Insbesondere Infektionen der tiefen Atemwege einschließlich Pneumonien (FREEDOMS: Bronchitis 8% vs. 4%) kommen unter Fingolimod*** jedoch häufiger vor. Mehrere Patienten erkranken an schwerwiegenden Herpesinfektionen, darunter zwei tödlich verlaufende unter der höheren Fingolimoddosis.1-4 Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), eine unter Natalizumab und anderen Immunsuppressiva beschriebene lebensbedrohliche opportunistische Infektion (siehe auch Seite 48, a-t 2009; 40: 91), wurde bislang nicht beobachtet. Bei einigen schweren, ungewöhnlichen "MS-Schüben", bei denen differentialdiagnostisch auch andere Enzephalopathien diskutiert werden, fehlt nach Einschätzung eines FDA-Reviewers aber zum Teil eine hinreichende Diagnostik, um die PML sicher auszuschließen.2

*** Daten zu unerwünschten Effekten beziehen sich, sofern nicht ausdrücklich anders angegeben, auf die zugelassene Fingolimoddosis von täglich 0,5 mg.

Bei Therapiebeginn senkt Fingolimod vorübergehend die Herzfrequenz. Die maximale Absenkung wird in den ersten sechs Stunden nach Einnahme der ersten Dosis beobachtet, 70% des Effekts am ersten Einnahmetag. Unter fortgesetzter Anwendung kehrt die Herzfrequenz innerhalb eines Monats auf den Ausgangswert zurück. Nach mehr als zweiwöchiger Unterbrechung ist erneut mit dem Effekt zu rechnen.1,4 Bei 0,8% der Patienten kommt es nach der ersten Dosis zu schwerwiegender Bradykardie oder AV-Block.2 Alle Fingolimodanwender müssen nach Einnahme der ersten Kapsel sechs Stunden lang auf Zeichen und Symptome einer Bradykardie hin überwacht werden, bei Auftreten von Symptomen ggf. auch länger. Bei Bradykardie, AV-Block 2. Grades oder höher, Synkope, koronarer Herzkrankheit oder Herzinsuffizienz in der Vorgeschichte sowie bei Therapie mit Betablockern oder Antiarrhythmika der Klasse IA oder III ist die Anwendung nicht untersucht, letztere sind kontraindiziert.1

Bei 0,4% der Anwender entwickelt sich meist innerhalb von drei bis vier Monaten ein Makulaödem mit oder ohne Sehstörungen. Drei bis vier Monate nach Therapiebeginn, bei hohem Risiko wie Diabetes auch vor Beginn, soll eine ophthalmologische Untersuchung durchgeführt werden. Tritt ein Makulaödem auf, wird Absetzen empfohlen.1 Nach Absetzen bessert sich der Befund im Allgemeinen oder bildet sich ganz zurück, bei einigen Patienten bestehen aber Sehschärfeverluste trotz Abklingen des Ödems fort.2,4

Fingolimodanwender klagen häufig über Migräne (in FREEDOMS 5% vs. 1% unter Plazebo).4 Unter höheren Dosierungen wurden vereinzelt Gefäßkomplikationen beobachtet, darunter Schlaganfall, periphere arterielle Verschlusskrankheit, pulmonale Hypertonie und retinale Mikrothrombose bzw. Ischämie. Trotz der geringen Zahlen muss ein Kausalzusammenhang aufgrund der Funktion des von Fingolimod gehemmten S1P-Rezeptors im Gefäßsystem in Betracht gezogen werden.2 Fingolimod steigert zudem den Blutdruck, unter der zugelassenen Dosis im Mittel um 2/1 mmHg. Bei 5% im Vergleich zu 3% unter Plazebo wird Hypertonie festgestellt.4

Pulmotoxische Effekte im Tierversuch, vermehrte Bronchokonstriktion unter täglich mindestens 5 mg Fingolimod sowie vermehrte Dyspnoe und Lungenödeme (unklarer Ursache) unter dem Mittel im Studienprogramm zu Nierentransplantationen haben zu Überwachungsauflagen im MS-Programm geführt. In Lungenfunktionsprüfungen wird ein gegenüber Plazebo stärkerer Abfall der Einsekundenkapazität (FEV1 nach 2 Jahren: -3,1% vs. -2% vom erwarteten Wert) und der Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid (DLCO: 3,8% vs. -2,7% vom erwarteten Wert) beobachtet. Während der FEV1-Abfall nach Absetzen reversibel zu sein scheint, ist die Reversibilität bei der DLCO unklar. Husten (10% vs. 8%) und Dyspnoe (8% vs. 5%) kommen in FREEDOMS häufiger vor als unter Scheinmedikament.4

Transaminasenerhöhungen sind unter Fingolimod häufiger als unter Plazebo oder Interferon beta (GPT-Anstieg auf mehr als das Dreifache der oberen Norm bei 8,5% [0,5 mg] vs. 1,6% [Plazebo] vs. 2,3% [IFN ß], auf mehr als das Fünffache der oberen Norm bei 1,6%, 0,8%, 1,4%). Auch schwerwiegende hepatobiliäre Ereignisse sind häufiger (0,5%, 0,2%, 0,2%).2 Transaminasen müssen vor und regelmäßig während der Behandlung überwacht werden.1

Zu den häufigen oder sehr häufigen Störwirkungen gehören Kopfschmerzen (24% vs. 21% unter Plazebo), Rückenschmerzen (9% vs. 6%), Durchfall (10% vs. 7%) und Übelkeit (9% vs. 7%). Zumindest höhere Fingolimoddosierungen scheinen das Krampfanfallrisiko zu steigern.2

Im Tierversuch erhöht Fingolimod die Lymphomrate. Im MS-Studienprogramm werden unter dem Mittel insgesamt drei Lymphome beobachtet, ein Patient unter der zugelassenen Dosis verstirbt. Die Häufigkeit (unter allen Fingolimod-Dosierungen) wird nach diesen Daten auf 0,53 pro 1.000 Patientenjahre geschätzt im Vergleich zur Häufigkeit von Non-HODGKIN-Lymphomen von 0,17 pro 1.000 Patientenjahre bei historischen Kontrollen. Insgesamt ist die Datenbasis für die Frage eines erhöhten Krebsrisikos unter Fingolimod zu klein und die Nachbeobachtung zu kurz.2

Fingolimod wirkt im Tierversuch teratogen. Eines von 13 Neugeborenen, deren Mütter das Mittel im Rahmen der Zulassungsstudien in der Schwangerschaft eingenommen haben, kommt mit verkürztem rechten Bein zur Welt. Da MS häufig junge Frauen betrifft, stellt die mögliche Teratogenität ein besonderes Risiko dar.3

KOSTEN: Fingolimod verteuert die Therapie der Multiplen Sklerose mit 2.346 € in 4 Wochen für täglich 0,5 mg per os gegenüber dem Interferon-beta-1a-Präparat AVONEX (1.624 € in 4 Wochen für einmal wöchentlich 30 µg i.m.) um knapp 45%, im Vergleich zum Integrinhemmer Natalizumab (TYSABRI; 2.407 € für 1 x 300 mg als i.v.-Infusion in 4 Wochen) ist Fingolimod etwas günstiger (-2,5%).

∎  Mit Fingolimod (GILENYA) steht seit April ein per os einzunehmendes Immunsuppressivum zur Behandlung der hochaktiven schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose zur Verfügung, das nur nach Versagen einer Betainterferontherapie bzw. primär nur bei sehr schwerem Verlauf angewendet werden darf.

∎  Gegenüber Plazebo mindert Fingolimod bei schubförmig remittierender MS die Schubrate relativ um 54% sowie das Fortschreiten von Behinderungen.

∎  Gegenüber dem Betainterferon-1a-Präparat AVONEX senkt Fingolimod die Schubrate relativ um 52%, hat aber auf den relevanteren Endpunkt, das Fortschreiten von Behinderungen, keinen besseren Einfluss.

∎  In einer Vielzahl von Organsystemen lassen sich Risiken unter Fingolimod erkennen, darunter vor allem kardiovaskuläre Effekte wie Bradykardie, Hypertonie und Makulaödem, pulmonale Effekte, Hepatotoxizität, erhöhtes Infektionsrisiko sowie möglicherweise erhöhtes Lymphomrisiko und Teratogenität. Die Langzeitsicherheit ist unzureichend geklärt.

∎  Wir erachten Fingolimod derzeit ausschließlich als Mittel der Reserve bei sehr schweren Verläufen, bei denen Betainterferone und Glatiramerazetat (COPAXONE) versagt haben oder nicht angewendet werden können. Fingolimod scheint uns beim heutigen Kenntnisstand für diese Patienten die bessere Alternative zu sein als der Integrinhemmer Natalizumab (TYSABRI).

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 Novartis: Fachinformation GILENYA, Stand März 2011
2 FDA: Medical Review Fingolimod, 26 August 2010;
http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/nda/2010/022527Orig1s000medr.pdf
3 EMA: Europäischer Beurteilungsbericht (EPAR) GILENYA, Stand Febr. 2011;
http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/002202/WC500104529.pdf
4 Novartis: US-amerikanische Produktinformation GILENYA, Stand Sept. 2010
R  5 KAPPOS, L. et al.: New Engl. J. Med. 2010; 362: 387-401
R  6 COHEN, J.A. et al.: New Engl. J. Med. 2010; 362: 402-15
M  7 Oregon Healthcare & Science University: Drug Class Review Disease-modifying Drugs for Multiple Sclerosis, Aug. 2010
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK50570/pdf/TOC.pdf

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 6. Mai 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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