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Nebenwirkungen

ANTICHOLINERGIKA-INHALATE BEI COPD: KARDIOVASKULÄRES RISIKO ERHÖHT?

Im März 2008 informierte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA über ein erhöhtes Schlaganfallrisiko (0,8% versus 0,6% pro Jahr) unter dem Anticholinergikum Tiotropiumbromid (SPIRIVA) in einer vom Hersteller Boehringer Ingelheim durchgeführten Metaanalyse von 29 plazebokontrollierten Studien, an denen insgesamt 13.500 Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) teilgenommen hatten (a-t 2008; 39: 52).1 In der großen Lung Health Study, die knapp 4.000 Raucher mit milder bis mäßiger Lungenfunktionseinschränkung im plazebokontrollierten Arm einschließt, fällt unter dem kurzwirkenden Anticholinergikum Ipratropiumbromid (ATROVENT) eine erhöhte kardiovaskuläre Sterblichkeit auf (0,92% vs. 0,36% in 5 Jahren).2

US-amerikanische Autoren haben diese Risikosignale zum Anlass genommen, die kardiovaskuläre Sicherheit inhalativer Anticholinergika bei COPD in einer Metaanalyse zu überprüfen. Einbezogen werden randomisierte plazebo- und verumkontrollierte Studien von mindestens 30-tägiger Dauer, die unter anderem in medizinischen Datenbanken und auf den Internetseiten der FDA, der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA oder der Hersteller - auch von Konkurrenzprodukten - gesucht werden. Bei gemeinsamer Auswertung von 17 Studien einschließlich der Lung Health Study mit insgesamt 14.783 COPD-Patienten und Nachbeobachtung über sechs Wochen bis fünf Jahre steigern die beiden Anticholinergika das Risiko von Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulär bedingtem Tod von 1,2% auf 1,8% (Relatives Risiko [RR] 1,58; 95% Konfidenzintervall [CI] 1,21-2,06). Von den Einzelkomponenten werden das Herzinfarktrisiko (RR 1,53; 95% CI 1,05-2,23) sowie das Risiko des kardiovaskulär bedingten Todes (RR 1,80; 95% CI 1,17-2,77) signifikant gesteigert. Für die Gesamtsterblichkeit findet sich ein Trend zum erhöhten Risiko (RR 1,26; 95% CI 0,99-1,61). Werden nur die fünf Studien mit Laufzeit von mehr als sechs Monaten ausgewertet, bestätigt sich das Ergebnis (Steigerung des kardiovaskulären Risikos von 1,8% auf 2,9% [RR 1,73; 95% CI 1,27-2,36), und zwar auch dann, wenn die beiden Anticholinergika getrennt betrachtet werden (Tiotropium, insgesamt 3.344 Patienten, RR 2,12; 95% CI 1,22-3,67; Ipratropiumbromid, insgesamt 3.923 Patienten, RR 1,57; 95% CI 1,08-2,28). Ursächlich kommen nach Einschätzung der Autoren vagolytische, möglicherweise aber auch entzündungsfördernde Effekte in Betracht.3

Die Tiotropium-Anbieter Boehringer Ingelheim und Pfizer haben sofort mit einer eigenen Metaanalyse dagegen gehalten, die allerdings nur im Rahmen einer Pressemitteilung verbreitet wird. In 30 plazebokontrollierten randomisierten Studien mit insgesamt 19.545 COPD-Patienten soll sich danach für Tiotropium kein Risikosignal im Hinblick auf Herzinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulär bedingten Tod oder Gesamtsterblichkeit zeigen.4 In diese Metaanalyse sind nach Herstellerangaben bereits die Daten der UPLIFT*-Studie eingeflossen,4 einer plazebokontrollierten Langzeitstudie mit knapp 6.000 Patienten, die auf die Entwicklung der Lungenfunktion angelegt ist und unter anderem auch die Gesamtsterblichkeit erfasst.5 Von der UPLIFT-Studie werden wichtige Daten zu Nutzen und Sicherheit von Tiotropium erwartet (a-t 2007; 38: 37-9). Sie ist aber, wie auch die übrigen Daten der Hersteller-Metaanalyse, nicht vollständig publiziert und somit bisher nicht beurteilbar. Sie soll am 5. Oktober 2008 auf einem Kongress in Berlin vorgestellt werden.4 Die Hersteller sind dringend aufgefordert, die Daten der UPFLIFT-Studie umgehend vollständig zugänglich zu machen.

Nach einer herstellerunabhängigen Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien steigt unter den inhalativen Anticholinergika Ipratropiumbromid (ATROVENT) und Tiotropiumbromid (SPIRIVA) das relative kardiovaskuläre Risiko (Herzinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod) von Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) signifikant um etwa 60%.

Für Ipratropiumbromid, dessen klinischer Nutzen in längerfristigen Studien nicht gesichert ist,6 sehen wir angesichts des kardiovaskulären Risikosignals keine Indikation mehr zur Behandlung der COPD.

Solange sich aus neuen vollständig veröffentlichten Daten, z.B. der UPLIFT-Studie, kein anderes Bild ergibt, ist nach den Ergebnissen der herstellerunabhängigen Metaanalyse von einem deutlichen Risikosignal auch für Tiotropiumbromid auszugehen. Die Nutzen-Risiko-Bilanz bei COPD ist individuell abzuwägen. Besonders bei kardial vorgeschädigten Patienten ist die Indikation streng zu stellen.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
  1 FDA: Early Communication about an Ongoing Safety Review of Tiotropium (marketed as Spiriva HandiHaler), 18. März 2008 http://www.fda.gov/cder/drug/early_comm/tiotropium.htm
R 2 ANTHONISEN, N.R. et al.: Am. J. Respir. Crit. Care Med. 2002; 166: 333-9
M 3 SINGH, S. et al.: JAMA 2008; 300: 1439-50
  4 Boehringer Ingelheim: Pressemitteilung vom 23. Sept. 2008
  5 DECRAMER, M. et al.: COPD 2004; 1: 303-12
M 6 WILT, T.J. et al.: Ann. Intern. Med. 2007; 147: 639-53

  * UPLIFT = Understanding the Potential Long-Term Impacts on Function with Tiotropium

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 2. Oktober 2008

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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