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Im Blickpunkt

PLASTIK IN DER MEDIZIN – HUNDERTE MILLIONEN INSULINPENS JÄHRLICH IM MÜLL

Die Belastung der Umwelt durch Plastik ist unübersehbar. Allein die Gesundheitsindustrie hat 2023 weltweit rund 11 Millionen Tonnen Plastik verarbeitet.1 In Deutschland wird der Therapie-assoziierte Abfall, der bei der Behandlung des Diabetes mellitus mit Insulin anfällt, auf mindestens 1,2 Milliarden Teile pro Jahr geschätzt. Diese Hochrechnung beruht auf einer Untersuchung, bei der 68 Patientinnen und Patienten einer Diabetesschwerpunktpraxis drei Monate lang ihre therapiebezogenen Abfälle (Pens, Insulinpatronen, Lanzetten, Nadeln, Sensoren, Katheter u.a.) in der Praxis abgegeben haben.2

Angesichts der Müllproblematik formulieren Anbieter von Arzneimitteln und Medizinprodukten zunehmend Nachhaltigkeitsziele. So strebt Novo Nordisk das Ziel an, „bei allen Geschäftsaktivitäten keine Umweltbelastung zu hinterlassen“.3 Allein Novo Nordisk produziert jedoch derzeit und mit steigender Tendenz weltweit jährlich mehr als 800 Millionen Insulinpens und verarbeitet dabei rund 14.000 Tonnen Plastik.4,5

Das Konzept der Einmalpens, die laut aktuellen Fachinformationen (z.B. NOVORAPID6) nach Gebrauch „entsprechend den nationalen Anforderungen zu beseitigen“ sind, also überwiegend im Müll „entsorgt“ werden, stammt aus den 1980er Jahren. Angesichts der zuvor üblichen Glasspritzen galten Einwegartikel seinerzeit als erstrebenswerte Annehmlichkeit, die die Injektion erleichtert. Beim Design der Pens kümmerte sich damals jedoch niemand um Art und Menge der verwendeten Kunststoffe7 – und schon gar nicht um Wiederverwertung. Seit Jahrzehnten landen daher Pens, die aus fossilen Rohstoffen synthetisiertes und biologisch nicht abbaubares Plastik enthalten, über den Hausmüll auf Deponien oder werden verbrannt und tragen dann zum Treibhauseffekt bei (siehe auch a-t 2021; 52: 81-3).

Inzwischen arbeiten Insulinanbieter national und international und zum Teil gemeinsam – Lilly, Merck, Novo Nordisk, Sanofi – an unterschiedlichen Lösungen für das Recyceln von Einwegpens.5,8,9 Die logistischen Herausforderungen für das Einsammeln nennenswerter Mengen der Pens, deren Dekontamination und Trennung in die einzelnen Materialfraktionen als Voraussetzung für die mögliche Wiederverwertung sind riesig. Zudem sind Einsammeln, Verarbeitung und Recyceln der Materialen ressourcen- bzw. energieaufwändig. Nachhaltigkeitsanalysen, die wir daher als Voraussetzung für eine systematische Umsetzung derartiger Programme erachten, erhalten wir von befragten Insulinanbietern nicht.

Das für Umwelt zuständige Bundesministerium BMUV hält ein „Herausrecyceln“ aus der Plastikkrise nicht für möglich, da die Zahl der potenziellen Verwertungszyklen bei Plastik zu gering sei.10 Recyceln mag zwar, parallel zur Strategie, den Materialmix bei Pens einzuschränken und besser recycelbare Kunststoffe zu verwenden, einen Teil des Plastikmülls vermeiden. Nachhaltiger erscheint uns jedoch vor allem, die Menge des eingesetzten Plastikmaterials drastisch zu reduzieren, etwa indem der Gebrauch wiederverwendbarer Injektionspens forciert wird. Diese werden beispielsweise von Lilly (SAVVIO) und Sanofi (ALLSTAR) für ihre Insulinprodukte angeboten und kosten rund 70 bis 100 Euro. Ihre Bedeutung ist jedoch im Vergleich zu vorgefüllten Fertigpens „noch relativ gering“.12

Firmen wie Novo Nordisk und Sanofi geben an, die Umstellung auf wiederverwendbare Geräte5,8 sowie den Ersatz von Kunststoffen aus nichtfossilen Rohstoffen vorantreiben zu wollen.5 Den aktuellen Nachhaltigkeitsversprechungen und auch den Erwartungen an das vorgesehene UN-Abkommen10 gegen Plastikmüll zum Trotz besteht jedoch beispielsweise auch der jüngste Fertigpen von Novo Nordisk für das Antidiabetikum/Antiadipositum Semaglutid (OZEMPIC/WEGOVY), das wesentlich zur Spitzenposition von Novo Nordisk unter Europas börsennotierten Konzernen beiträgt (vgl. a-t 2023; 54: 57-61), aus Plastik, Glas, Gummi und Aluminium.11

Insgesamt scheint dennoch bei den Anbietern das Bewusstsein zu steigen, dass die Ressourcen optimiert und die Verwendung von Plastik reduziert werden müssen. Eine spürbare Entlastung der Umwelt ist allerdings noch nicht zu erkennen.

Wiederverwendbare Injektionsgeräte, für die Anbieter Verwendungszeiten von bis zu fünf oder sechs Jahren angeben,12,13 sind nur ein – wenn auch wichtiges – Beispiel, wie im Medizinbereich der Gebrauch umweltschädigender Einwegprodukte eingeschränkt werden kann. Ärztliche Fachgesellschaften wie die AG Umwelt, Diabetes & Klimaschutz14 der Deutschen Diabetes Gesellschaft können dazu beitragen, für die Notwendigkeit zu sensibilisieren, auf Einwegprodukte zu verzichten, wo immer dies möglich ist.

1ALCORN, T.: New York Times vom 26. Febr. 2024; https://a-turl.de/hszq (Einloggen erforderlich)
2PETRY, S. et al.: Diabetol. und Stoffw. 2024; 19 (S 01): S44, Abstract
3Zit. nach Interpharma (CH): Nachhaltigkeit als Teil aller Geschäftstätigkeiten von Novo Nordisk, 25. Sept. 2023; https://a-turl.de/b4wq
4Novo Nordisk Annual Report 2023; https://a-turl.de/nadg
5Novo Nordisk: Schreiben vom 28. Mai 2024
6Novo Nordisk: Fachinformation NOVORAPID, Stand Sept. 2020
7DIBONA, K. (Vizepräsidentin im Bereich Nachhaltigkeit, Novo Nordisk), zit. nach1
8Sanofi: Schreiben vom 27. Mai 2024
9Lilly: Schreiben vom 29. Mai 2024
10Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz: Mitteilung vom 18. Apr. 2024; https://a-turl.de/usz2
11Novo Nordisk: Fachinformation WEGOVY, Stand März 2024
12Novo Nordisk: Schreiben vom 31. Mai 2024
13Lilly: Schreiben vom 31. Mai 2024
14AG Diabetes, Umwelt & Klima der DDG: Internetseite, undatiert; https://a-turl.de/6nih

© 2024 arznei-telegramm, publiziert am 7. Juni 2024

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