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Therapiekritik

MUSKELRELAXANZIEN BEI SCHMERZHAFTEN MUSKELVERSPANNUNGEN?

Als Reaktion auf unser blitz-a-t zu tödlichen Hautschäden unter Tetrazepam (MUSARIL, Generika; a-t 2013; 44: 24) haben mehrere Kollegen angefragt, welche Alternativen wir empfehlen. Hinsichtlich schmerzhafter Muskelverspannungen sind Muskelrelaxanzien vor allem bei Rückenschmerzen untersucht. Die meisten Studien sind alt und haben methodische Mängel. Oftmals wird nicht zwischen unspezifischen Kreuzschmerzen und solchen mit Radikulopathien unterschieden, oder es bleibt unklar, welche Diagnose vorliegt. Zudem fehlen häufig Angaben zu Physiotherapie. Für die hierzulande zugelassenen Wirkstoffe und Dosierungen erscheint uns ein Nutzen in randomisierten doppelblinden Vergleichen mit Plazebo oder Schmerztherapie nicht hinreichend belegt:

RÜCKENSCHMERZEN: Zur Therapie akuter schmerzhafter Muskelverspannungen am Rücken mit Diazepam (DIAZEP-CT u.a. Generika) finden wir drei plazebokontrollierte Studien. Lediglich eine mit 68 Patienten errechnet einen Vorteil gegenüber Scheinmedikament hinsichtlich eines Endpunktes, der in erster Linie durch einen Surrogatparameter bestimmt wird.1 In einer zweiten Studie mit 50 Patienten wirkt das Benzodiazepin nicht besser als Plazebo.2 Ein dritter Vergleich, an dem 60 Patienten mit lumbalem Diskusprolaps und akuter/subakuter (92%) oder chronischer Ischialgie teilnehmen, die keine Operationsindikation haben, weist sogar auf mögliche nachteilige Effekte hin: Unter Diazepam zusätzlich zu Schmerz- und Physiotherapie werden in einem sekundären Endpunkt* Schmerzen auf der visuellen Analogskala signifikant seltener um wenigstens 50% gelindert als unter Plazebo (41% versus 79%; p = 0,0015). Auch die Dauer des Krankenhausaufenthaltes ist unter dem Benzodiazepin länger (im Median 8 Tage vs. 10 Tage; p = 0,008).3

Randomisierte Studien zu Tetrazepam (MUSARIL, Generika) in dieser Indikation finden wir nicht.

Auch zu den Nicht-Benzodiazepinen ist die Datenlage allenfalls widersprüchlich. Zu Tizanidin (SIRDALUD, TIZANIDIN-TEVA) werden in einer finnischen4 und zwei britischen5,6 Studien mit 30, 105 und 112 Patienten Schmerzen nicht signifikant oder aber nicht klinisch relevant besser gemindert als unter Plazebo. Eine signifikante und zum Teil auch relevante Schmerzreduktion finden demgegenüber zwei neuere Studien aus der Türkei beziehungsweise aus Indien mit 97 und 197 Teilnehmern.7,8 Während in der plazebokontrollierten türkischen Studie7 eine unerklärte Ungleichverteilung der Patienten in die Gruppen am Ergebnis zweifeln lässt, stellt sich für die indische die Frage der Übertragbarkeit. Sie prüft eine Fixkombination von Tizanidin in einer Dosierung von nur zweimal täglich 2 mg plus Aceclofenac, einem hierzulande wenig gebräuchlichen nichtsteroidalen Antirheumatikum, gegenüber Aceclofenac (BEOFENAC) allein.8 Hierzulande werden für Tizanidin Tagesdosierungen von 6 mg bis 16 mg empfohlen.9

Zu Orphenadrin (NORFLEX) finden wir nur drei, für eine abschließende Bewertung unzureichende Studien mit 50 bis 80 Patienten. Einmalige intravenöse Anwendung verringert demnach Schmerzen nach 15 Minuten in einer Untersuchung nicht besser als Plazebo,10 in einer anderen nach 45 Minuten hingegen schon.11 In der dritten Studie führt die Einnahme häufiger als unter Scheinmedikament zu einer „Verbesserung” von Beschwerden und Schmerzen, wobei unklar ist, wie diese definiert wird.12

Für Methocarbamol (DOLOVISANO METHOCARBAMOL, ORTOTON) sollen zwei bereits vor mehr als acht Jahren abgeschlossene, bis heute aber nicht vollständig publizierte Studien einen Nutzen belegen. Laut aktuellem Lizenzinhaber Recordati soll deren Veröffentlichung geplant sein.13

Für Pridinol (MYOSON) scheint es keine plazebokontrollierten Studien zu geben. Und Tolperison (MYDOCALM, Generika) soll nach einem 2012 abgeschlossenen Risikobewertungsverfahren durch die europäische Arzneimittelbehörde EMA wegen negativer Nutzen-Schaden-Bilanz nicht mehr bei schmerzhaften Muskelverspannungen angewendet werden (a-t 2012; 43: 63). Einen erst im Februar 2013 von mehreren Herstellern gemeinsam versendeten Rote-Hand-Brief14 zur Einschränkung der Indikation auf die symptomatische Behandlung der Spastizität nach Schlaganfall bei Erwachsenen hat der MYDOCALM-Anbieter Strathmann jedoch nicht mit unterzeichnet.

Zur Therapie chronischer Rückenschmerzen mit Muskelrelaxanzien finden wir neben einer Pilotstudie15 lediglich deren Folgestudie mit 152 Patienten. Beide untersuchen Tetrazepam. Nach 14-tägiger Therapie sind die Schmerzen demnach aber nicht signifikant geringer als unter Plazebo.16

Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz beurteilt Muskelrelaxanzien bei unspezifischem Kreuzschmerz als Mittel der Reserve, die wegen unerwünschter Wirkungen mit Bedacht und nicht länger als zwei Wochen angewendet werden sollen. Vom Gebrauch von Benzodiazepinen rät sie allerdings vor allem wegen des sehr hohen Abhängigkeitspotenzials ab.17 Dass die Leitlinie eine schmerzlindernde Wirkung von Muskelrelaxanzien – außer Pridinol und Tolperison – als belegt ansieht, ist maßgeblich auf ein älteres Cochrane Review18 zurückzuführen. Dessen pauschale positive Bewertung lässt sich bei genauerer Betrachtung der Studien aber nicht auf hierzulande verfügbare Präparate übertragen.

NACKENSCHMERZEN: Zur Therapie schmerzhafter Verspannungen im Nacken mit Muskelrelaxanzien liefern kleine plazebokontrollierte Studien mit Diazepam19,20 und Tetrazepam21 keine hinreichenden Belege für einen Nutzen.

Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat gegen die kurzzeitige Verwendung von muskelrelaxierenden Substanzen (z.B. von Benzodiazepinen) bei akuten Nackenschmerzen zwar grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn die Indikation sehr streng gestellt wird. Begründet wird dies jedoch damit, dass sich aus der Literatur zu Muskelrelaxanzien eine Wirksamkeit bei akuten Schmerzzuständen ableiten ließe.22 Unter anderem wird hierfür ebenfalls auf das Cochrane-Review18 zu Rückenschmerzen verwiesen.

∎  Der Nutzen von Muskelrelaxanzien bei Nacken- und Rückenschmerzen erscheint uns nicht hinreichend belegt, auch wenn sie verschiedenen Leitlinien zufolge zur kurzfristigen Anwendung als Reservemittel in Betracht kommen.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
R  1 MOLL, W.: Med. Welt 1973; 24: 1747-51
R  2 HINGORANI, K.: Ann. Phys. Med. 1966; 8: 303-6
R  3 BRÖTZ, D. et al.: Pain 2010; 149: 470-5
R  4 LEPISTÖ, P.: Curr. Ther. Res. 1979; 26: 454-9
R  5 BERRY, H., HUTCHINSON, D.R.: J. Int. Med. Res. 1988; 16: 83-91
R  6 BERRY, H., HUTCHINSON, D.R.: J. Int. Med. Res. 1988; 16: 75-82
R  7 KETENCI, A. et al.: Int. J. Clin. Pract. 2005; 59: 764-70
R  8 PAREEK, A. et al.: Eur. Spine J. 2009; 18: 1836-42
9 Novartis Pharma: Fachinformation SIRDALUD, Stand März 2012
R  10 TERVO, T. et al.: Br. J. Clin. Pract. 1976; 30: 62-4
R  11 KLINGER, N.M. et al.: Curr. Ther. Res. 1988; 43: 247-54
R  12 GOLD, R.H.: Clin. Ther. 1978; 1: 451-3
13 Recordati: Schreiben vom 28. Jan. 2013
14 Aliud Pharma et al.: Rote-Hand-Brief Tolperison, 21. Febr. 2013; http:// www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2013/20130221.pdf
R  15 ARBUS, L. et al.: Clin. Trials J. 1990; 27: 258-67
R  16 SALZMANN, E. et al.: J. Drug Dev. 1992; 4: 219-28
17 Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz, Version 1.2, Stand Aug. 2011; http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007l_S3_ Kreuzschmerz_2011-08_01.pdf
M  18 van TULDER, M.W. et al.: Muscle relaxants for non-specific low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Okt. 2002, Zugriff Feb. 2013
R  19 BASMAJIAN, J.V.: Arch. Phys. Med. Rehabil. 1978; 59: 58-63
R  20 BASMAJIAN, J.V.: Arch. Phys. Med. Rehabil. 1983; 64: 121-4
R  21 SALZMANN, E. et al.: Fortschr. Med. 1993; 111: 544-8
22 DEGAM: DEGAM-Leitlinie Nr. 13 Nackenschmerzen, Juni 2009 http://leitlinien.degam.de/uploads/media/LL-Nackenschmerzen-13_Langfassung_ZD.pdf

* In dem ungewöhnlichen primären Endpunkt der Zentralisierung des projizierten Schmerzes findet sich kein Unterschied.

© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 15. März 2013

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