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Nebenwirkungen

RISIKEN VON METALL-METALL-HÜFTENDOPROTHESEN - Strengere Regulierung von Medizinprodukten ist überfällig

Kaum ist der Skandal um Brustprothesen mit Industriesilikon (a-t 2012; 43: 1-2) aus den Schlagzeilen, kommen durch eine Fernsehsendung, die von der BBC gemeinsam mit dem britischen Ärzteblatt BMJ produziert wurde, erneut implantierbare Medizinprodukte in die Diskussion:1 Hüftgelenksendoprothesen mit Metall-Metall-Gleitpaarung, bei denen also die Oberfläche sowohl des Femurkopfes als auch der Hüftpfanne aus Metall besteht. Gegenüber den konventionellen Prothesen mit Metall-Polyethylen-Gleitpaarung sollten neuere Metall-Metall-Prothesen, die seit den 1990er Jahren ohne Zulassung durch staatliche Behörden in den Markt kamen, den Verschleiß verringern und zudem durch größere Femurköpfe die Dislokationsgefahr senken.2 Bereits im April 2010 hatte die britische Arzneimittelbehörde MHRA vor fortschreitenden Weichteilreaktionen gewarnt, die auf Abrieb von Metallpartikeln aus den Prothesen beruhen.3 Der Abrieb kann zu ausgedehnten Gewebsnekrosen, Zerstörung des Knochens und Implantatversagen führen.4,5 Prothesen mit größeren Femurköpfen scheinen dabei besonders riskant zu sein.6 Im August 2010 musste die Firma Depuy, eine Tochter von Johnson & Johnson, weltweit Metall-Metall-Prothesen ("ASR"-Prothesen) wegen erhöhter Revisionsraten aufgrund des Metallabriebs aus dem Handel ziehen. Laut BMJ waren die Probleme dem Hersteller allerdings bereits seit Jahren bekannt.1,7

Nach einem systematischen Review haben Metall-Metall-Prothesen in den wenigen vergleichenden Studien keinen Vorteil gegenüber Metall-Polyethylen-Prothesen. Nach den drei größten nationalen Registern in Australien, Neuseeland und Großbritannien gehen diese Prothesen aber mit höheren Revisionsraten einher.2 Implantatrevisionen nach Weichteilreaktionen auf Metallabrieb haben nach Einschätzung britischer Orthopäden zudem eine schlechtere Prognose als Revisionen aufgrund anderer Implantatprobleme.4

Eine weitere unzureichend geklärte Gefährdung der Patienten wird in erhöhten systemischen Konzentrationen von Kobalt- und Chrom-Ionen gesehen, die aus der Legierung der Prothesen freigesetzt werden. Neben der möglichen Kanzerogenität wird Kobalt unter anderem auch mit Kardio- und Neurotoxizität in Verbindung gebracht.1,5

Aktuell hat die MHRA ihre Empfehlungen zur Überwachung von Patienten mit Metall-Metall-Hüftprothesen verschärft. Um revisionspflichtiges Versagen dieser Prothesen rechtzeitig zu erkennen, sollen symptomatische Patienten mit Teilprothese oder Totalendoprothese und Femurkopfdurchmesser unter 36 mm mindestens fünf Jahre lang jährlich untersucht werden einschließlich Blutuntersuchung auf Metallionen, Patienten mit Totalendoprothese und größerem Femurkopfdurchmesser bzw. mit DePuy-ASR-Prothesen über die gesamte Lebensdauer des Implantats.8 Die Maßnahmen des BfArM beschränken sich derzeit darauf, die Empfehlungen der britischen Behörde an Hersteller und Fachgesellschaften weiterzuleiten und beide Seiten um Stellungnahmen zu bitten.9 Das BfArM hat nicht einmal einen Überblick über die Dimension des Problems hierzulande, da ein nationales Register in Deutschland nicht existiert. Die britische Hip Society rät inzwischen von der Implantation von Metall-Metall-Totalendoprothesen mit großem Femurkopf ganz ab.6

Erneut wird deutlich, dass die Anforderungen an den Marktzugang von Medizinprodukten und ihre Überwachung nach der Vermarktung völlig unzureichend sind. In Europa benötigen die Hersteller selbst von Medizinprodukten der höchsten Risikoklasse wie Hüftimplantaten lediglich die Zertifizierung durch eines der rund 80 europäischen privaten Prüfinstitute, aber keine aussagefähigen klinischen Studien zu Nutzen und Sicherheit.10 Eine strengere Regulierung von Medizinprodukten ist dringend überfällig: Implantierbare Medizinprodukte müssen vor der Vermarktung eine den Arzneimitteln vergleichbare Prüfung und Zulassung durch eine zentrale Behörde durchlaufen. Auch die Post-Marketing-Überwachung von Medizinprodukten, für die hierzulande die personell und fachlich überforderten Länderbehörden zuständig sind, gehört in den Zuständigkeitsbereich einer zentralen Behörde.

1 COHEN, D.: BMJ 2012; 344: e1410 (5 Seiten)
2 SEDRAKYAN, A. et al.: BMJ 2011; 343: d7434 (12 Seiten)
3 MHRA: Medical Device Alert: All metal-on-metal (MOM) hip replacements, Apr. 2010
4 FARY, C. et al.: BMJ 2011; 343: d7441 (5 Seiten)
5 HENEGHAN, C. et al.: BMJ 2012; 344: e1349 (4 Seiten)
6 British Hip Society: Statements on Large Diameter Metal on Metal Bearing Total Hip Replacements, März 2012
7 COHEN, D.: BMJ 2011; 342: d2905 (7 Seiten)
8 MHRA: Medical Device Alert: All metal-on-metal (MOM) hip replacements, Febr. 2012
9 BfArM: Schreiben vom 2. März 2012
10 WINDELER, J. et al.: BARMER GEK Gesundheitsw. aktuell 2011, Seite 152-67

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 9. März 2012

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