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Im Blickpunkt

ADHS: DIAGNOSE VOM EINSCHULUNGSALTER ABHÄNGIG?

Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer häufiger diagnostiziert worden. Gleichzeitig hat die Verordnung von Psychostimulanzien wie Methylphenidat (RITALIN u.a.), mit denen die betroffenen Kinder medikamentös behandelt werden, drastisch zugenommen (vgl. a-t 2000; 31: 65-6). Der rasche Anstieg der Diagnoserate, aber auch Unterschiede in der Häufigkeit sowohl zwischen verschiedenen Ländern als auch innerhalb eines Landes geben Anlass für Diskussionen darüber, ob die Störung möglicherweise überdiagnostiziert wird.

Nach zwei aktuellen Publikationen könnte zumindest in den USA die Diagnose zu häufig gestellt werden, weil das unreifere Verhalten jüngerer Kinder innerhalb eines Schuljahrgangs fehlgedeutet wird. Die Daten der ersten Untersuchung1 stammen aus einer Kohortenstudie, an der knapp 19.000 Kinder teilnehmen, die im Schuljahr 1998/99 in die Vorschule kamen. Ihre Eltern werden in den Folgejahren wiederholt u.a. dazu befragt, ob bei ihrem Kind ADHS diagnostiziert wurde und falls ja, ob es deswegen medikamentös behandelt wird. Eltern und Lehrer beantworten zudem regelmäßig Fragen zur sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung, mit denen ADHS-typische Symptome erfasst werden. Knapp 12.000 Kinder, die in Bundesstaaten wohnen, in denen es einen Stichtag für die Einschulung gibt (meist müssen die Kinder bis zum 1. September oder bis zum 1. oder 2. Dezember fünf Jahre alt sein), gehen in die Analyse ein. In der gesamten Stichprobe beträgt die ADHS-Prävalenz 6,4%. 4,5% nehmen Stimulanzien, 3,1% Methylphenidat. Bei den jüngsten Kindern eines Schuljahrgangs, die im Monat vor dem jeweiligen Stichtag geboren sind, wird ADHS 65% häufiger diagnostiziert als bei Kindern, die im Monat nach dem Stichtag Geburtstag haben und damit fast ein Jahr älter sind (8,4% versus 5,1%). Werden nur Kinder verglichen, die im August geboren sind, so fällt auf, dass die Diagnoserate in Bundesstaaten mit Stichtag 1. September bei 10% liegt im Vergleich zu 4,1% in Staaten mit Stichtag 1. Dezember. Auch die Wahrscheinlichkeit, Stimulanzien anzuwenden, ist bei den jüngeren Kindern einer Klasse mehr als doppelt so hoch.1

Dabei scheint vor allem die Wahrnehmung der Lehrer durch das Schuleintrittsalter beeinflusst zu werden: Bei ihnen sind die Unterschiede in der Häufigkeit, mit der sie ADHS-typische Symptome bei den jüngsten im Vergleich zu den ältesten Kindern eines Schuljahrgangs beobachten, viermal so groß wie bei den Eltern.1

Die Ergebnisse der zweiten Untersuchung, die auf Daten aus drei verschiedenen Stichproben basiert, weisen in die gleiche Richtung: Hier wird ADHS bei jüngeren gegenüber älteren Kindern eines Schuljahrgangs 28% häufiger diagnostiziert (9,7% vs. 7,6%), und jüngere Kinder nehmen häufiger Stimulanzien ein, je nach zugrunde liegender Datenbasis um 12% (4,5% vs. 4,0%) bzw. 25% (6,5% vs. 5,2%).2 Dass die Unterschiede zwischen den älteren und jüngeren Kindern in dieser Studie insgesamt geringer ausfallen, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Vergleichszeitraum – Geburtstag bis zu 120 Tage vor bzw. nach dem Stichtag – viermal so groß ist wie in der ersten Untersuchung (± 1 Monat). Für andere im Kindesalter auftretende Erkrankungen wie Allergien oder Windpocken sowie für den Gebrauch von Asthmamitteln oder Antibiotika lassen sich keine Unterschiede in Abhängigkeit vom Schuleintrittsalter nachweisen.2

Entsprechende Untersuchungen aus Deutschland gibt es unseres Wissens nicht. Angesichts der Tendenz, Kinder immer früher einzuschulen, sehen wir hier dringenden Klärungsbedarf, –Red.

1 ELDER, T.E.: J. Health Economics 2010; 29: 641-56
2 EVANS, W.N. et al.: J. Health Economics 2010; 29: 657-73

© 2010 arznei-telegramm, publiziert am 8. Oktober 2010

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