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Im Blickpunkt

METHYLPHENIDAT (RITALIN U.A.) - ZUNEHMEND ÜBERVERORDNET?

Das Psychostimulans Methylphenidat (RITALIN, MEDIKINET) ist für die Behandlung hyperkinetischer Verhaltensstörungen des Kindes und bei Narkolepsie zugelassen. Korrekte Verordnung vorausgesetzt, ist ein therapeutischer Nutzen für einige Kinder mit dem "Aufmerksamkeits­defizit-/Hyperaktivitäts­syndrom" (ADHD) zu erwarten. Drastisch steigende Absatzzahlen des Betäubungsmittels - z.B. in Deutschland innerhalb von 5 Jahren um mehr als das Vierzigfache (1995: 0,7 Millionen Tabletten, 1999: 31 Millionen Tabletten) - lassen jedoch Zweifel an der Qualität der Indikationsstellung aufkommen. Nicht jeder "Zappelphilipp", der unzureichende schulische Leistungen aufweist und den Unterricht stört, ist ein Kandidat für die Behandlung mit amphetaminartigen Stimulanzien. Die Prävalenz des ADHD wird international sehr unterschiedlich angegeben und liegt zwischen 2% in Großbritannien und bis 18% in Deutschland. Dies wird auf kulturelle und diagnostische Unterschiede zurückgeführt.1

Die Verschreibung von Methylphenidat für zwei- bis vierjährige Kinder stieg in den USA zwischen 1991 und 1995 um das Zwei- bis Dreifache.2 1995 nahmen bis 1% Methylphenidat ein. Dabei ist das Stimulans für Kinder unter sechs Jahren ausdrücklich kontraindiziert. Studien zur Wirksamkeit fehlen für diese Altersgruppe.3,4 Befürchtungen über negative Beeinflussung der Entwicklung des kindlichen Gehirns sind begründet. Nach einer - nicht repräsentativen - Befragung sollen Kinder- und Jugendpsychiater zurückhaltender mit medikamentösen Maßnahmen umgehen als Hausärzte.4

Die Diagnose des Aufmerksamkeits­defizit-/Hyperaktivitäts­syndroms soll sich auf mehrere Quellen stützen (Eltern, Schule, eigene Beobachtung u.a.).3 Gemäß DSM-IV* müssen mindestens sechs Symptome von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität über mehr als ein halbes Jahr bestehen, in mindestens zwei Lebensbereichen auftreten (z.B. zu Hause und in der Schule) und zu tief greifenden sozialen und schulischen Beeinträchtigungen führen. Organische oder andere psychische Erkrankungen sind auszuschließen. Dies erfordert gründliche körperliche, neurologische und psychodiagnostische Untersuchung. Die Diagnose lässt sich somit nicht im Rahmen einer kurzen Konsultation und nicht allein vom Hausarzt oder Pädiater stellen. Auch bei gesicherter Diagnose ist die Verschreibung von Stimulanzien kritisch zu überdenken und nur im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts mit Integration psychosozialer Verfahren (Verhaltenstherapie) zu erwägen.3

Amphetamine wie Methylphenidat erhöhen die Konzentration von Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt. Dadurch sollen agitationsvermittelnde Neurone gehemmt und die Konzentrationsleistung gesteigert werden. Die Wirkung tritt rasch ein. Innerhalb von 30 Minuten können sich Aufmerksamkeit und Hyperaktivität frappierend für drei bis vier Stunden verbessern. Auf das Lernverhalten und die soziale Kompetenz scheint sich die Therapie hingegen geringer auszuwirken (a-t 1996; Nr. 4: 38-9).1 Die psychischen Veränderungen kurz nach Einnahme des Medikamentes werden von den Eltern als entlastend erlebt und können Wegbereiter für vorschnelle Verordnungen sein. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass es an Informationen über die Langzeiteffekte von Stimulanzien mangelt.

Nebenwirkungen sind häufig und können zum Absetzen zwingen. Sie nehmen dosisabhängig zu. Eine tägliche Dosis von 60 mg Methylphenidat soll daher nicht überschritten werden. Für die mancherorts durchgeführte "Hochdosistherapie" mit täglich 100 mg und mehr fehlt ein Nutzenbeleg.3

Berichte über zunehmenden Missbrauch von Methylphenidat unter Schülern sind ernst zu nehmen. Zwar scheint eine Suchtentwicklung bei korrekter Dosierung auch bei Daueranwendung kein vorrangiges Problem zu sein. Doch wird unter Schülern schwunghafter Handel mit "Vitamin R" beschrieben.5 Vor allem in Kreisen, in denen Ecstasy beliebt ist, soll auch Methylphenidat bevorzugt konsumiert werden.

FAZIT: Die Diagnose des Aufmerksamkeits­defizit-/Hyperaktivitäts­syndroms (ADHD) erfolgt nach klar festgelegten Kriterien. Nicht jedes betroffene Kind benötigt automatisch eine medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien wie Methylphenidat (RITALIN u.a.). Diese sollte Kindern mit ausgeprägten Symptomen vorbehalten sein oder falls verhaltenstherapeutische Maßnahmen nicht ausreichen.6

Drastisch steigende Absatzzahlen des amphetaminartigen Mittels mit Steigerung innerhalb von fünf Jahren um mehr als das Vierzigfache weisen jedoch auf erhebliche Überverordnung hin. Dies ist bedenklich, weil Langzeiterfahrungen zum Nutzen und zur Schädlichkeit von Methylphenidat auf das kindliche Gehirn fehlen.



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