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Korrespondenz

PNEUMOKOKKEN-IMPFSTOFF
...Nutzenbelege für Erwachsene nach wie vor unzureichend

In a-t 2003; 34: 94 hatten Sie auf die "allenfalls spärlichen Nutzenbelege" der Pneumokokkenimpfung bei Erwachsenen hingewiesen. In a-t 2005; 36: 23 hatten Sie dann über die gehäuften Lokalreaktionen bei Wiederimpfungen berichtet.
Bislang hatte die STIKO bei Erwachsenen über 60 Jahren eine routinemäßige Auffrischimpfung alle sechs Jahre empfohlen. Jetzt sagt sie zu Wiederholungsimpfungen "nach Angaben der Hersteller für Personen mit erhöhtem Risiko für schwere Pneumokokken-Erkrankungen".1 In der Fachinformation von PNEUMOVAX 23 heißt es: "Gesunde Erwachsene und Kinder sollten nicht routinemäßig erneut geimpft werden. Wiederholungsimpfungen werden Personen mit erhöhtem Risiko für schwere Pneumokokken-Erkrankungen empfohlen." 2 Gibt es seit Ihrer Aussage in a-t 2003; 34: 94 neue Erkenntnisse zum Nutzen der Pneumokokkenimpfung bei Erwachsenen? Sollten Erwachsene überhaupt und ggf. wer erneut geimpft werden?

Dr. med. J. WALTER (Facharzt für Innere Medizin)
D-75172 Pforzheim
Interessenkonflikt: keiner

  1 Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut, Stand Juli 2007; Epidemiol. Bull. 2007; Nr. 30: 267-86
  2 Sanofi Pasteur MSD: Fachinformation PNEUMOVAX, Stand Jan. 2007

NUTZENBELEGE: Wir finden keine Studien zum Pneumokokken-Polysaccharidimpfstoff (PNEUMOVAX 23) bei Erwachsenen, die eine Neubewertung erfordern. Ein kurz nach Erscheinen des a-t-Beitrags publiziertes Cochrane-Review1 bestätigt erneut, dass sich aus randomisierten und quasi randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt mehr als 88.000 Teilnehmern für die Impfung Erwachsener - darunter Ältere und Patienten mit chronischen Erkrankungen - mit dem Polysaccharidimpfstoff weder im Hinblick auf Lungenentzündungen noch auf Sterblichkeit ein Nutzen ableiten lässt. Ein (nichtsignifikanter) Vorteil im Hinblick auf Lungenentzündungen lässt sich nur erkennen, wenn die ältesten Studien mit ausgewertet werden, die entweder heutigen Qualitätsstandards nicht genügen oder deren Übertragbarkeit (Teilnehmer: südafrikanische Minenarbeiter, Bewohner des Hochlands von Papua-Neuguinea) auf die hiesigen Verhältnisse zweifelhaft ist. Je später das Publikationsjahr der jeweils ältesten noch mit ausgewerteten Studie, desto deutlicher zeigt sich in Sensitivitätsanalysen ein Trend zu Ungunsten der Impfung. Nachträglich (!) werten die Cochrane-Autoren auch Beobachtungsstudien aus, nach denen die Impfung invasive Pneumokokkeninfektionen - Isolation des Erregers aus einem transthorakalen Lungenpunktat, aus dem Blut oder anderen üblicherweise sterilen Körperflüssigkeiten - um etwa die Hälfte reduzieren soll (Odds ratio 0,47; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,37-0,59).1 Zu ähnlichem Ergebnis kommt eine 2004 publizierte systematische Übersicht2 aller Beobachtungsstudien zum Pneumokokken-Polysaccharidimpfstoff bei Erwachsenen. In der Konsistenz der Ergebnisse im Hinblick auf die (seltenen) invasiven Pneumokokkenerkrankungen sehen die Autoren dieser Übersicht ein Argument für die Validität der Studien. Sie betonen jedoch gleichzeitig die Grenzen der Aussagekraft von Beobachtungsdaten für den Nutzen der Intervention. Hinzu kommt, dass der ihrer Ansicht nach relevantere Endpunkt Lungenentzündungen insgesamt nicht konsistent beeinflusst wird. Die größte und methodisch wahrscheinlich beste Arbeit,2 eine retrospektive Kohortenstudie, lässt zwar ebenfalls eine verminderte Rate an Bakteriämien erkennen, aber auch eine Zunahme der Krankenhausaufnahmen wegen Pneumonie.3

Zwei nach Publikation des Cochrane Reviews erschienene randomisierte kontrollierte Studien finden wir in Datenbanken. Eine japanische Arbeit4 ist als Leserbrief publiziert und nicht viel umfangreicher als ein Abstract. In der offenen Studie mit 294 durchschnittlich 82 Jahre alten bettlägerigen Patienten soll durch den Pneumokokken-Polysaccharidimpfstoff die Zahl der Tage mit Fieber oder mit Atemwegsinfektionen sowie die der Krankenhausaufnahmen wegen Pneumonie signifikant gesenkt worden sein.4 Wesentliche Informationen zur Beurteilung dieser Studie fehlen in dem Kurzreferat. Eine Neubewertung des Impfstoffes kann die Publikation nicht begründen.

In einer Anfang 2006 veröffentlichten, methodisch suboptimalen offenen randomisierten Studie aus einem spanischen Zentrum, an der 600 Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) teilnehmen, bleibt ein signifikanter Effekt der Impfung auf ambulant erworbene Pneumonien durch Pneumokokken oder aus unbekannter Ursache (primärer Endpunkt) innerhalb von durchschnittlich zweieinhalb Jahren aus (8,4% versus 11%, p = 0,33). Pneumonien insgesamt (12,7% versus 12,4%) und Sterblichkeit (19,1% versus 19,5%) werden ebenfalls nicht beeinflusst.5 Eine systematische Cochrane-Übersicht vom Oktober 2006 findet bei Auswertung von vier randomisierten kontrollierten Studien einschließlich der spanischen Untersuchung keine Evidenz, dass die Pneumokokkenimpfung einen signifikanten Einfluss auf Morbidität oder Mortalität von Patienten mit COPD hat.6

IMPFEMPFEHLUNGEN: Dennoch wird die Impfung nicht nur in Deutschland, sondern auch international für ein breites Spektrum von Patienten mit chronischen Erkrankungen sowie für alle älteren Menschen empfohlen.7-9 Eine der wenigen Ausnahmen sind die Niederlande.10 Der niederländische Gesundheitsrat hat sich aufgrund einer Anfang 2004 publizierten Auswertung von systematischen Übersichten und kontrollierten Studien durch das niederländische Cochrane-Zentrum, das die Evidenz als unzureichend beurteilt hat,11 gegen eine Einführung der Pneumokokkenimpfung für gesunde Ältere entschieden.10,12 Die Niederländer wollen die Situation im eigenen Land aber nutzen, um die Wirksamkeit der Pneumokokkenimpfung bei gesunden Älteren in einer randomisierten Studie zu prüfen.12 Die plazebokontrollierte Studie wird allerdings nicht mit dem Polysaccharidimpfstoff, sondern mit einem bislang nicht im Handel befindlichen multivalenten Konjugatimpfstoff durchgeführt. Sie soll nächstes Jahr beginnen.13

Der niederländische Gesundheitsrat empfiehlt die Impfung derzeit definitiv nur für Menschen mit sehr hohem Sterberisiko durch Pneumokokkeninfektionen, wozu Patienten mit Asplenie, Sichelzellanämie oder Liquorfistel zählen. Die Impfung soll zudem auf der Basis der individuellen Umstände bei Patienten mit malignen Lymphomen, HIV-Infektion, Nierenerkrankungen, Autoimmunerkrankungen oder Therapie mit Immunsuppressiva u.a. in Betracht gezogen werden. Bei soliden Tumoren, Diabetes, chronischen Lungenerkrankungen oder chronischer Herzinsuffizienz wird eine routinemäßige Impfung in den Niederlanden nicht empfohlen.10

Wiederholungsimpfungen werden von allen hier zitierten Leitlinien für Patienten mit funktioneller oder anatomischer Asplenie angeraten.7-10 In britischen Leitlinien7 gehören auch Patienten mit nephrotischem Syndrom in diese Kategorie, in amerikanischen8 außerdem Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz sowie immunsupprimierte Patienten zum Beispiel bei HIV-Infektion, malignen Lymphomen oder Leukämie oder unter Chemotherapie. Den umfangreichsten Indikationskatalog für Wiederholungsimpfungen bietet die STIKO-Empfehlung,9 die neuerdings aber anscheinend gesunde Personen über 60 Jahren von routinemäßigen erneuten Immunisierungen ausnimmt. Grund für die Abkehr der STIKO von der zuvor empfohlenen routinemäßigen Wiederholungsimpfung auch aller über 60-Jährigen sind offenbar gehäufte Meldungen über ausgeprägte Lokalreaktionen in Verbindung mit der Immunisierung (vgl. a-t 2005; 36: 23).14

Der Nutzen des Pneumokokken-Polysaccharidimpfstoffs (PNEUMOVAX) für Erwachsene ist nach wie vor unzureichend belegt.

Für Patienten mit hohem Sterberisiko aufgrund von Pneumokokkeninfektionen, etwa nach Splenektomie oder bei funktioneller Asplenie, ist die Impfung einschließlich Wiederholungsimpfungen trotz der begrenzten Evidenz zu befürworten.

Für die Massenimpfung aller Älteren sehen wir angesichts der fehlenden validen Nutzenbelege keine Basis.

Auch die routinemäßige Impfung von Patienten mit Diabetes mellitus oder chronischer Herz- oder Lungenerkrankung erscheint uns nicht begründet.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
M1DEAR, K.B.G. et al.: Vaccines for preventing pneumococcal infection in adults. The Cochrane Database of Systematic Reviews, 2007, Issue 4; Stand Aug. 2003
M2CONATY, S. et al.: Vaccine 2004; 22: 3214-24
 3JACKSON, L.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2003; 348: 1747-55
R4CHIBA, H. et al.: J. Am. Geriatr. Soc. 2004; 52: 1410
R5ALFAGEME, I. et al.: Thorax 2006; 61: 189-95
M6GRANGER, R. et al.: Injectable vaccines for preventing pneumococcal infection in patients with chronic obstructive pulmonary disease. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 4; Stand Juli 2006
 7National Health Service UK: Clinical knowledge summaries. Clinical topic Immunizations - pneumococcal vaccine, Okt. 2006; http://www.cks.library.nhs.uk/immunizations_pneumococcal/view_whole_guidance
 8Centers for Disease Control and Prevention (USA): Recommended Adult Immunization Schedule - United States, Okt. 2005-Sept. 2006; MMWR 2005; 54: Q1-4
 9Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut, Stand Juli 2007; Epidemiol. Bull. 2007; Nr. 30: 267-86
 10Health Council of the Netherlands: Pneumococcal vaccine in elderly adults and risk groups, Den Haag, Aug. 2003; http://www.gr.nl/pdf.php?ID=731
 11ASSENDELFT, W.J.J. et al.: Neth. J. Med. 2004; 62: 36-44
 12VAN DEN BOSCH, W.J.H.M.: Neth. J. Med. 2004; 62: 66-8
 13HAK, E. (Univ. Med. Center Utrecht): Schreiben vom 28. Nov. 2007
 14Neuerungen in den aktuellen Empfehlungen der STIKO vom Juli 2007; Epidemiol. Bull. 2007; Nr. 31: 287-92

© 2007 arznei-telegramm, publiziert am 7. Dezember 2007

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