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Korrespondenz

PNEUMOKOKKEN-IMPFUNG -
WIE IST DER STAND DER KENNTNIS?

Derzeit wird in der "bunten" ärztlichen Presse ... seitens ärztlicher Promotoren eine Impfung mit Pneumokokken- Vakzine für alle Säuglinge gefordert und dies mit der aktuellen Studienlage und zunehmender Antibiotika-Resistenz begründet. Wie sehen die Studienlage und EbM-Empfehlungen aus für: Säuglinge/Kinder/Risikopersonen/Senioren?

U. POPERT (Facharzt für Allgemeinmedizin)
D-34119 Kassel
Interessenkonflikt: keiner

Wir sehen keine Basis für eine generelle Impfung aller Säuglinge gegen Pneumokokken. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Impfung nur für Kinder mit erhöhtem Risiko. Bei Säuglingen und Kleinkindern, für die der stärker immunogene Konjugatimpfstoff PREVENAR zugelassen ist (a-t 2001; 32: 38-9), sind dies neben Kindern mit chronischen Erkrankungen oder Immundefekt Frühgeborene und Kinder mit Geburtsgewicht unter 2.500 g.1 In einer großen US-amerikanischen Studie lassen sich durch die Impfung invasive Pneumokokken-Erkrankungen mit den in der Vakzine enthaltenen sieben Serogruppen bei gesunden Kindern zuverlässig verhindern.2 Dies gilt nach - offenbar nicht prädefinierten - Subgruppenanalysen auch für gesunde Frühgeborene und Kinder mit geringem Geburtsgewicht.3 Entsprechende Nutzenbelege für Europa, wo wegen eines anderen Spektrums vorherrschender Serogruppen mit geringerer Wirksamkeit zu rechnen ist, sind nach wie vor nicht publiziert. In Deutschland ist andererseits wegen des geringeren Anteils penizillinresistenter Pneumokokken von einer höheren Erfolgsrate der Antibiotikatherapie auszugehen. Bei Kindern mit Sichelzellanämie wirkt die Impfung nachweislich immunogen. Belege für einen klinischen Nutzen der Impfung im Sinne eines Schutzes vor invasiven Infektionen finden wir dagegen für kranke Kinder nicht.4 Zwei europäische Studien zur Prävention der Otitis media mit Konjugatimpfstoff - allein oder in Kombination mit Boosterung durch Polysaccharidimpfstoff - kommen zu negativem Ergebnis.5,6

Für Kinder ab dem dritten Lebensjahr und Erwachsene ist nur der Polysaccharidimpfstoff (PNEUMOPUR, PNEUMOVAX 23) zugelassen. Die STIKO empfiehlt die Impfung für alle über 60-Jährigen und für chronisch Kranke (vgl. a-t 1998; Nr. 11: 103- 4).1 Nach mehreren systematischen Übersichten randomisierter kontrollierter Studien ist ein Nutzen allerdings nur für gesunde junge Arbeiter in südafrikanischen Goldminen und für Bewohner des Hochlands von Papua Neuguinea hinreichend nachgewiesen.7-10 Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf die hiesigen Erkrankungsbedingungen und Patienten wird bezweifelt.7,9,11 Aus den Studien mit insgesamt mehr als 24.000 Risikopatienten oder Älteren insbesondere auch in industrialisierten Ländern lässt sich dagegen weder hinsichtlich der Zahl der Pneumokokken-Pneumonien noch der Lungenentzündungen insgesamt oder der Sterblichkeit eine präventive Wirksamkeit ableiten. Nur im Hinblick auf Pneumokokken-Bakteriämien ergibt sich ein nicht signifikanter Unterschied zu Gunsten der Impfung.7-10 In der neuesten randomisierten Studie mit HIV-infizierten Patienten in Uganda nimmt die Gesamtzahl der Pneumonien unter den Geimpften signifikant zu (von 3,0% auf 5,7% pro Jahr; Number needed to harm [NNH] = 38). Als möglichen Wirkmechanismus diskutieren die Autoren eine direkte Schädigung von B-Zellen durch die im Impfstoff enthaltenen Polysaccharide, mithin einen "generalisierbaren biologischen Effekt".12

Die Ergebnisse einer aktuellen retrospektiven US-amerikanischen Kohortenstudie mit 47.000 mindestens 65 Jahre alten Patienten stimmen mit denen der Metaanalysen weitgehend überein: Weder die Rate der Krankenhausaufnahmen wegen Pneumonie noch die der ambulant behandelten Pneumonien oder die Gesamtsterblichkeit werden durch die Impfung positiv beeinflusst. Nur Pneumokokken-Bakteriämien werden um knapp die Hälfte von 68 auf 38 pro 100.000 pro Jahr vermindert. Bei Immunsupprimierten ergibt sich jedoch auch hier kein Unterschied.13 Unter der Voraussetzung, dass es sich um einen realen Effekt der Impfung handelt, müssten mehr als 3.300 über 65-Jährige zu Kosten von 100.000 € geimpft werden, um eine solche Komplikation, deren klinische Relevanz unklar ist, zu verhindern.

 Aufgrund der allenfalls spärlichen Nutzenbelege empfehlen wir die zurückhaltende Verwendung der Pneumokokken-Impfung.

 Eine Massenimpfung aller Säuglinge entbehrt jeder Grundlage. Die Datenlage spricht unseres Erachtens auch gegen die Impfung aller über 60-Jährigen.

 HIV-Infizierte werden durch den Polysaccharidimpfstoff möglicherweise sogar geschädigt.

© 2003 arznei-telegramm

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