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                            a-t 2006; 37: 35-6nächster Artikel
Im Blickpunkt

BIOTECHNOLOGIE + GEHEIMNISKRÄMEREI
= RISIKO BEI PROBANDENVERSUCHEN?

Die Unabwägbarkeiten in der Medizin sind wohl selten so groß wie bei der ersten Anwendung eines neuen Wirkstoffes beim Menschen. Die Risiken sind unbekannt und lassen sich aus präklinischen Daten nicht zuverlässig vorhersehen. Dies gilt besonders, seitdem neben simplen Chemikalien zunehmend komplexe Proteine an Menschen getestet werden, die auf vielfältige Weise beipielsweise in das Immunsystem eingreifen und oft speziesspezifisch, aber nicht krankheitsspezifisch wirken. Selbst unter übersichtlichen in-vitro-Bedingungen binden Antikörper bisweilen an andere als vorgesehene Strukturen.1 Dies gilt erst recht im menschlichen Körper: So richtet sich der als "zielgerichtet" bezeichnete Antikörper Trastuzumab (HERCEPTIN) nicht nur gegen Brustkrebszellen, sondern setzt unter anderem auch an Rezeptoren im kardialen Gewebe an mit der Folge beträchtlicher Kardiotoxizität (a-t 2000; 31: 45-6).

Ein solch komplexer Stoff ist auch der humanisierte monoklonale Antikörper TGN 1412 der Würzburger Firma TeGenero, der jetzt in London bei allen sechs vormals gesunden Verum-Probanden zu lebensbedrohlichem Organversagen geführt hat. Der auch CD28-Super-MAB genannte Antikörper soll nach den Vorstellungen der entwickelnden Firma einerseits das Immunsystem aktivieren, damit Immunzellen beispielsweise bei Blutkrebs vom B-Zell-Typ wirksam werden können. Dabei aktiviert er T-Zellen durch Bindung an das Oberflächenmolekül CD28, ohne dass zusätzlich ein antigenspezifisches Signal erforderlich ist. Andererseits soll TGN 1412 regulatorische T-Zellen aktivieren und damit die zu starke Immunreaktion bei Patienten dämpfen können, die z.B. an Multipler Sklerose oder rheumatoider Arthritis erkrankt sind. Die Londoner Ereignisse machen deutlich, dass die Auswirkungen von gentechnisch manipulierten Antikörpern auf das Immunsystem nicht so leicht kalkulierbar sind.

Phase-1-Studien mit gesunden Probanden bergen ein besonderes ethisches Problem, da die Versuchsteilnehmer - abgesehen vom Honorar, in diesem Fall jeweils 2.900 € - von der Untersuchung keinen Nutzen haben, bei grundsätzlich neuen Wirkprinzipien aber unkalkulierbare Risiken eingehen. Dies gilt insbesondere, wenn ein Medikament, das auf ein beeinträchtigtes Immunsystem zielen soll, bei Personen mit intaktem Immunsystem geprüft wird.2 Andererseits sind besondere Risiken humanisierter Antikörper bereits aus etablierten Therapien bekannt: Zytokin-Syndrom, Capillary Leak Syndrom, Hypersensitivitäts-Reaktionen mit Organversagen ohne auslösende Allergie. Vorbehandlung mit Glukokortikoiden zur Abschwächung solcher Reaktionen ist in die klinische Praxis eingegangen, beispielsweise bei Therapie mit Rituximab (MABTHERA).

Im Fall TGN 1412 besteht Klärungsbedarf, ob die Erstanwendung ohne Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen war. Die Firma TeGenero beeilte sich zwar zu betonen, dass "alle regulatorischen und klinischen Regeln befolgt" worden seien und dass sich der Antikörper in präklinischen Studien als sicher erwiesen habe. Auch seien die unerwünschten Effekte völlig unerwartet aufgetreten.3 Die Firma und die britische Überwachungsbehörde, die den Probandenversuch genehmigt hat, verweigern jedoch Einblicke in die Studienprotokolle, da diese "kommerziell sensibel" seien.3 Sowohl die genehmigende Behörde als auch die Firma dürften aber in ihren Analysen befangen sein. Geht es den Beteiligten doch möglicherweise weniger um Aufklärung als um die Bestätigung, dass sie keine Fehler gemacht haben.

Das Argument, dass alle Vorschriften eingehalten worden seien, läuft ins Leere, wenn offen bleibt, ob die Studienprotokolle angemessen waren. Waren Zytokin-Reaktionen und Folgezustände von der genehmigenden Behörde bedacht worden, und waren Gegenmaßnahmen eingeplant? Die Injektion des Prüfpräparates bei allen Probanden in Abständen weniger Minuten scheint selbst bei Antikörpern, deren Auswirkungen bei Erstanwendung unübersehbar sind, verbreitete Praxis zu sein. Ein solches Vorgehen mag die Arbeit im Auftrags-Forschungsinstitut beschleunigen, gefährdet aber die Probanden.4 Es erscheint somit nicht akzeptabel, dass die zeitliche Abfolge der Prüfung von TGN 1412 dem Prüfinstitut überlassen worden ist. Dies weist auf Schwachstellen in Design und Überwachung der Studie hin.

Die Verweigerung der Offenlegung gibt ein falsches Signal und schürt Misstrauen gegenüber klinischen Studien. Die Einstufung des Zulassungsdossiers als angebliches Betriebsgeheimnis darf die unabhängige Überprüfung der Vorgänge nicht behindern. Besteht doch gerade jetzt die Chance, durch fachöffentliche Diskussion die Verfahrensweisen von Probandenversuchen grundlegend zu überprüfen und den Anforderungen und Risiken anzupassen, die mit den neuen Biotechnologien einhergehen. Schließlich sollen sich weltweit bereits mehr als 1.700 Biopharmazeutika in Entwicklung befinden.5

Ethisch und rechtlich relevant ist auch die Frage, ob die Probanden hinreichend über die besonderen Risiken des Versuches, einschließlich des Schädigungsspektrums, das von etablierten monoklonalen Antikörpern bekannt ist, aufgeklärt wurden. Auch hier darf es keine Betriebsgeheimnisse geben. Schließlich geht es um die Gesundheit der Versuchspersonen und der nachfolgenden Patienten.

  Die Einstufung der Daten von Probandenstudien als Betriebsgeheimnis ist nicht akzeptabel und behindert risikomindernde Maßnahmen.

  Auf der Basis einer fachöffentlichen Auswertung der Vorgänge um den als Superagonisten bezeichneten Antikörper TGN 1412 sollten Vertretbarkeit und Risikomanagement bei Probandenversuchen systematisch überprüft und den heutigen Anforderungen angepasst werden.


 

1

SELF, C.H., THOMPSON, S.: Lancet 2006; 367: 1038-9

 

2

GOODYEAR, M.: BMJ 2006; 332: 677- 8

 

3

Editorial Lancet 2006; 367: 960

 

4

COLLIER, J. zit. nach MAYOR, S.: BMJ 2006; 332: 683

 

5

ELLISON, D.E.: Scrip (Suppl.) April 2006: 14-5

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