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                            a-t 2005; 36: 33-5nächster Artikel
Neu auf dem Markt

ATOMOXETIN (STRATTERA) BEI ADHS

Seit März 2005 bietet die Lilly GmbH Atomoxetin (STRATTERA) zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS; siehe Kasten Seite 34) an. Das ursprünglich unter der Bezeichnung Tomoxetin als Antidepressivum geprüfte Mittel1,2 ist als Teil eines "umfassenden Behandlungsprogramms" bei Kindern ab sechs Jahren zugelassen.3 Im Gegensatz zum üblicherweise verwendeten Methylphenidat (RITALIN u.a.) untersteht Atomoxetin nicht der Betäubungsmittel- Verschreibungsverordnung.

EIGENSCHAFTEN: Der genaue Wirkmechanismus von Atomoxetin ist nicht bekannt. Es soll nicht amphetaminartig wirken, sondern die Wiederaufnahme von Noradrenalin im zentralen Nervensystem hemmen. In seiner Struktur ähnelt es dem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluoxetin (FLUCTIN u.a.). Atomoxetin wird nach Einnahme per os vollständig absorbiert und in der Leber durch Zytochrom P450 2D6 verstoffwechselt. Der Hauptmetabolit wird nach Glukuronidierung im Urin ausgeschieden. Die Plasmahalbwertszeit beträgt ca. fünf Stunden, ist jedoch bei Patienten mit reduzierter Aktivität von CYP 2D6 (so genannte langsame Metabolisierer, 5% bis 10% der europäischen Bevölkerung) auf etwa 24 Stunden verlängert. Hemmstoffe von CYP 2D6 wie Fluoxetin und Paroxetin (SEROXAT u.a.) führen ebenfalls zu einer deutlich verlängerten Serumhalbwertszeit. Die gleichzeitige Einnahme von MAO-Hemmstoffen wie Moclobemid (AURORIX) ist kontraindiziert.3

WIRKSAMKEIT: Wir finden fünf vollständig publizierte plazebokontrollierte Kurzzeitstudien mit insgesamt knapp 1.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren.4-7 Der Nutzen von Atomoxetin wird anhand der "ADHD Rating Scale" (ADHD-RS) gemessen, ein Fragebogen, mit dem die Häufigkeit der 18 im DSM* IV definierten Symptome wie Ablenkbarkeit, Unvermögen ruhig zu sitzen usw. von den Eltern erfragt wird (0 = nie oder selten bis 3 = sehr oft). Das Verhalten in der Schule wird nicht überprüft. Während der maximal neunwöchigen Behandlungsphasen kommt es bei eingangs durchschnittlich 37 bis 42 ADHD-RS-Punkten zu einer Verringerung um 5 bis 7 Punkte unter Plazebo, unter täglich 0,5 mg bis 2 mg/kg Körpergewicht (KG) Atomoxetin um 12,8 bis 16,7 Punkte.4-7 Für Dosierungen oberhalb der für Patienten bis 70 kg KG empfohlenen Tagesdosis von 1,2 mg/kg KG ist kein zusätzlicher Nutzen belegt.3

*

DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders

In einer Auslassstudie nehmen 416 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren, die während einer zwölfwöchigen offenen Behandlungsphase auf maximal 1,8 mg/kg KG Atomoxetin ansprechen, neun Monate randomisiert entweder weiter Atomoxetin oder Plazebo ein. Durch Umsetzen auf Plazebo kommt es, ausgehend von durchschnittlich 15,7 Punkten nach der initialen Behandlungsphase, zu einer Verschlechterung von +12,3 Punkte. Auch der Nutzen von Atomoxetin hält nicht an: Trotz fortgesetzter Einnahme verschlechtert sich der Wert von 15,8 um +6,8 Punkte.8 Langzeitnutzen und -sicherheit von Atomoxetin sind nicht geprüft.

ZWEIFEL AM ADHS-KONZEPT

Es besteht nach wie vor keine allgemeine Übereinkunft darüber, was ADHS ist und wie damit umgegangen werden soll.16,17 Das Konzept einer genetisch bedingten Erkrankung mit biologischem Korrelat, für das wirksame Arzneimittel zur Verfügung stehen,18 ist nicht unumstritten.19,20 Die als Kernsymptome des ADHS definierten Verhaltensweisen – Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit – sind bis zu einem gewissen Grad bei allen Kindern zu finden. Sie können daher als Extremvariante normalen Verhaltens betrachtet werden.17 Die Einschätzung des kindlichen Verhaltens als normal oder gestört auf der Basis der international definierten diagnostischen Kriterien (DSM IV, ICD 10*) ist in hohem Maße von der Toleranz des Untersuchers abhängig.21 Trotz immenser Forschung ist eine biologische Ursache nach wie vor nicht gesichert.17

Kritiker des Konzepts sind insbesondere alarmiert durch den drastischen Anstieg der Verordnungen von Psychostimulanzien, in erster Linie Methylphenidat (RITALIN u.a.).21 In Deutschland ist die Verordnungshäufigkeit seit Ende der 90er Jahre erneut um das Vierfache gestiegen (1998 4,7 Mio., 2003 19,8 Mio. Tagesdosierungen).22 Zunehmend werden offenbar auch Kinder im Vorschulalter behandelt,23 für die Methylphenidat nicht zugelassen ist.24 Zwar sind kurzfristige Effekte auf die so genannten Kernsymptome in Studien belegt.25 Der langfristige Einfluss auf die schulische, berufliche oder soziale Entwicklung ist jedoch nicht bekannt.26 Ebenso fehlen kontrollierte Erfahrungen zur Langzeitsicherheit: So ist nach wie vor wenig über die Auswirkungen auf die Gehirnreifung von jahrelang mit amphetaminartigen Substanzen behandelten Kindern bekannt. Tierexperimentelle Daten lassen einen Anstieg von PARKINSON-Erkrankungen bei chronischer Einnahme befürchten (a-t 2002; 33: 16). Neben Psychostimulanzien ist die Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva wie Desipramin (PETYLYL) und Imipramin (TOFRANIL u.a.) in klinischen Studien untersucht worden.27

**

ICD = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems

In einem zehnwöchigen Vergleich mit Methylphenidat an 228 Kindern zwischen 7 und 15 Jahren wirken Atomoxetin (max. 2 mg/kg KG täglich) und Methylphenidat (max. 60 mg/Tag) gemessen an Punkten der ADHD-RS ungefähr gleich gut.9 Die Studie kann jedoch nicht als Beleg für die Gleichwertigkeit gelten, da sie auf diese Frage nicht angelegt ist und zudem offen durchgeführt wird. Erbrechen und Schläfrigkeit sind unter Atomoxetin deutlich häufiger.9 In zwei unveröffentlichten dreiwöchigen Vergleichsstudien mit Amphetaminsalzen (USA: ADDERALL XR, hier nicht zugelassen) und retardiertem Methylphenidat (CONCERTA u.a.) soll Atomoxetin schlechter wirken als die Stimulanzien.10,11

STÖRWIRKUNGEN: Häufig wird über Kopfschmerzen (27%), Bauchschmerzen (bis 20%), Übelkeit und Erbrechen (7% bis 15%) geklagt. Dermatitis, Schwindel und Müdigkeit betreffen 4% bis 9%.12 Störwirkungen sind bei langsamen Metabolisierern häufiger als bei normaler Verstoffwechselung: verminderter Appetit (24% vs. 17%), Schlafstörungen (11% vs. 7%), Blasenschwäche (3% vs. 1%), depressive Stimmung (3% vs. 1%), Ohnmacht (2% vs. 1%) oder Tremor (5% vs. 1%).3 Ähnlich wie Methylphenidat13 bremst auch Atomoxetin die Gewichtszunahme und das Längenwachstum der Kinder. Die durchschnittliche Längenentwicklung nach neunmonatiger Einnahme ist um 0,4 cm verringert (2,5 cm vs. 2,9 cm).8

Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck sind ebenso wie orthostatische Dysregulation beschrieben.3,12 In offenen Studien kommt es bei sieben Kindern zu Synkopen.13 Wegen Zunahme unerwünschter Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-System ist Vorsicht geboten bei gleichzeitiger Therapie mit Betaagonisten wie Salbutamol (SULTANOL u.a.).3,12 Von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA wird während des dortigen Zulassungsverfahrens die Möglichkeit von Verlängerungen der QT-Zeit im EKG (Risikofaktor für Torsade de pointes) diskutiert, insbesondere bei hoher Dosierung (1,8 mg/kg) und gleichzeitig langsamer Metabolisierung.13 Hinweise auf diese Bedenken fehlen sowohl in der amerikanischen als auch in der deutschen Fachinformation.3,12

Die auch in klinischen Studien beschriebenen Stimmungsschwankungen (2% bis 8%12) bis hin zu extremer Gereiztheit, aggressivem Verhalten und manischen Verhaltensformen treten in der Praxis offensichtlich weitaus häufiger auf: In einer Serie von 153 ADHS-Patienten werden bei 51 Kindern (33%) teilweise schwere aggressiv gefärbte affektive Störungen bis hin zu Äußerungen von Morddrohungen berichtet. Bei der Mehrzahl der Betroffenen sind zwar in der eigenen oder der Familienanamnese affektive Störungen bekannt, bei 11% gibt es jedoch keine Hinweise darauf.14 Aggressive Verhaltensweisen sind auch bei Anwendung von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern bekannt (a-t 2003; 34: 114; 2004; 35: 45-6 und 2005; 36: 1-2).

Im Dezember 2004 warnt die FDA vor möglichen schweren Leberschäden durch Atomoxetin, nachdem bei einem 14-jährigen Jungen und einer 31- jährigen Frau während der Einnahme schwere Leberfunktionsstörungen auftraten.15

KOSTEN: Alle STRATTERA-Wirkstärken (10 mg, 18 mg, 25 mg, 40 mg, 60 mg) werden zum identischen Preis angeboten. Die monatlichen Therapiekosten liegen bei täglicher Einnahme einer Kapsel bei 111 €. Eine Behandlung mit täglich 30 mg nicht-retardiertem Methylphenidat kostet monatlich die Hälfte (RITALIN: 47 €) bis zwei Drittel weniger (z.B. METHYLPHENIDAT HEXAL: 38 €), retardiertes Methylphenidat knapp ein Viertel weniger (z.B. CONCERTA; 85 € bei 36 mg/Tag).

 Gemessen an einem 18 Items umfassenden Fragebogen verbessert Atomoxetin (STRATTERA) in Kurzzeitstudien bis neun Wochen die Symptomatik bei hyperkinetischen Kindern besser als Plazebo. Die Wirksamkeit lässt im Verlauf offenbar nach.

 Erhebliche Sicherheitsbedenken bestehen aufgrund schwerer Leberfunktionsstörungen sowie schwerer affektiver Störungen mit aggressiver Komponente, die in der Praxis offensichtlich häufig vorkommen.

 Vorteile gegenüber den ebenfalls kritisch zu hinterfragenden Psychostimulanzien wie Methylphenidat (RITALIN u.a.; a-t 2002; 33: 16) ergeben sich aus der veröffentlichten Datenlage nicht.

Wir raten von der Anwendung ab.

 

 

(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)

 

1

Scrip 2001; Nr. 2692: 24

 

2

CHOUINARD, G. et al.: Psychopharmacology 1984; 83: 126-8

 

3

Lilly: Fachinformation STRATTERA, Stand Jan. 2005

R

4

MICHELSON, D. et al.: Pediatrics 2001; 108: E83; http://pediatrics.aappublications.org/cgi/reprint/108/5/e835

R

5

SPENCER, T. et al.: J. Clin. Psychiatry 2002; 63: 1140-7

R

6

MICHELSON, D. et al.: Am. J. Psychiatry 2002; 159: 1896-1901

R

7

KELSEY, D.K. et al.: Pediatrics 2004; 114: e1-e8; http://www.pediatrics.org/cgi/content/full/114/1/e1

R

8

MICHELSON, D. et al.: J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry 2004; 43: 896-904

R

9

KRATOCHVIL, C.J. et al.: J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry 2002; 41: 776-84

 

10

http://www.healthyplace.com/Communities/add/Site/story_strattera_7.htm

 

11

MOYER, P.: http://www.medscape.com/viewarticle/475153

 

12

US-amerikanische Fachinformation STRATTERA, Febr. 2005, http://pi.lilly.com/us/strattera-pi.pdf

 

13

BOEHM, G. (FDA): Clinical Safety Review, unter http://www.fda.gov/cder/foi/nda/2002/21- 411_strattera.htm

 

14

HENDERSON, T.A. et al.: Pediatrics 2004; 114: 895-6

 

15

FDA Talk Paper vom 17. Dez. 2004: http://www.fda.gov/bbs/topics/ANSWERS/2004/ANS01335.html

 

16

TIMIMI, S., TAYLOR, E.: Brit. J. Psychiatry 2004; 184: 8-9

 

17

Scottish Intercollegiate Guidelines Network: Attention Deficit and Hyperkinetic Disorders in Children and Young People. A national clinical guideline, Juni 2001; http://www.sign.ac.uk/pdf/sign52.pdf

 

18

BARKLEY, R.A.: Clin. Child Fam. Psychol. Rev. 2002; 5: 89-111

 

19

TIMIMI, S. et al.: Clin. Child Fam. Psychol. Rev. 2004; 7: 59-63

 

20

JUREIDINI, J.: Eur. Child Adolesc. Psychiatry 2002; 11: 240

 

21

HÜTHER, G., BONNEY, H.: "Neues vom Zappelphilipp, ADS verstehen, vorbeugen und behandeln", Walter Verlag, 5. Aufl. 2004

 

22

LOHSE, M.J. et al.: Psychopharmaka; in: SCHWABE, U., PAFFRATH, D. (Hrsg.): "Arzneiverordnungs-Report 2004", Springer, Berlin 2004, Seite 769-810

 

23

MAGNO ZITO, J. et al.: JAMA 2000; 283: 1025-30

 

24

Novartis Pharma: Fachinformation RITALIN, Stand Nov. 2002

M

25

SCHACHTER, H.M. et al.: Can. Med. Ass. J. 2001; 165: 1475-88

 

26

VITIELLO, B.: Can. Med. Ass. J. 2001; 165: 1505-6

 

27

BIEDERMAN, J. et al.: Int. J. Neuropsychopharmacol. 2004; 7: 77-97

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