logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2005; 36: 3nächster Artikel
Neu auf dem Markt

BIVALIRUDIN (ANGIOX) BEI
PERKUTANEN KORONARINTERVENTIONEN?

Seit Oktober 2004 ist Bivalirudin (synonym Hirulog; ANGIOX) in Deutschland zur Antikoagulation bei perkutanen Koronarinterventionen (PCI) im Handel. Mitte der 90er Jahre war die klinische Entwicklung des Hirudin-Analogon zunächst gestoppt worden, nachdem Vergleichsstudien mit Heparin im Rahmen von PCI bei instabiler oder Postinfarkt-Angina oder als Antikoagulans bei der Thrombolyse akuter Infarkte mit Streptokinase enttäuschend verlaufen waren.1,2 Nach Wechsel des Herstellers, Änderung des Produktionsverfahrens und Reanalyse4 früherer Studien5 wurde Bivalirudin 2000 im zweiten Anlauf in den USA für PCI bei instabiler und Postinfarkt-Angina zugelassen.

EIGENSCHAFTEN: Das halbsynthetische Polypeptid leitet sich vom natürlichen Hirudin ab. Bivalirudin hemmt direkt und spezifisch die Aktivität von freiem und an Blutgerinnsel gebundenem Thrombin. Die Spaltung von Bivalirudin durch Thrombin trägt nach anfänglich kompletter Hemmung zur Reaktivierung des Gerinnungsfaktors bei.

Die antikoagulatorische Wirkung ist dosis- und konzentrationsabhängig. Sie führt zu einer Verlängerung der aktivierten Gerinnungszeit (ACT), der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT) und der Thrombinzeit (TT). Inter- und intraindividuell schwankt die Wirkung nur gering. Ein Antidot ist nicht bekannt.

Spitzenkonzentrationen werden wenige Minuten nach intravenöser Bolusgabe erreicht. Nach Ende der Infusion normalisieren sich die Gerinnungswerte innerhalb von vier Stunden. Bivalirudin wird größtenteils proteolytisch gespalten und zu 20% renal ausgeschieden. Die Halbwertszeit von 25 Minuten verlängert sich bei schwerer Störung der Nierenfunktion auf eine Stunde, bei Hämodialyse-Patienten auf 3,5 Stunden. Metabolisierung in der Leber und relevante Interaktionen sind nicht bekannt.2,3

WIRKSAMKEIT: Vor 1997 durchgeführte klinische Studien sind für die jetzt zugelassene Indikation nicht aussagekräftig, da sich die Standardbehandlung bei PCI in den vergangenen Jahren durch Verwendung von Glykoprotein IIb/ IIIa (GP)-Blockern und Ticlopidin (TIKLYD u.a.) oder Clopidogrel (ISCOVER, PLAVIX) wesentlich verändert hat.6

Für die europäische Zulassung ist die multizentrische doppelblinde REPLACE*-2-Studie7 entscheidend. 6.002 Patienten, die sich wegen stabiler Angina oder positivem Belastungstest (56%) elektiv oder wegen instabiler oder Postin-farkt-Angina (44%) akut einer PCI unterziehen müssen, nehmen daran teil. Bei 85% der Patienten wird ein Stent implantiert, 86% erhalten vor und 92% nach dem Eingriff Clopidogrel oder - weniger als 2% - Ticlopidin. Als Strategien werden verglichen: Bivalirudin (0,75 mg/kg Körpergewicht [KG] als Bolus i.v., dann 1,75 mg/kg KG/h für die Zeit des Eingriffs) mit Verwendung eines GP-Blockers nur bei Bedarf (vor allem bei thrombotischen Komplikationen während des Eingriffs, insgesamt in 6%) versus unfraktioniertes Heparin (LIQUEMIN N u.a.; 65 E/kg KG als Bolus) mit planmäßiger Verwendung eines GP-Blockers (97%) - zu etwa gleichen Anteilen Eptifibatid (INTEGRILIN) oder Abciximab (REOPRO). Todesfälle, Infarkte, dringende erneute Revaskularisationen oder schwere Blutungen nach 30 Tagen (primärer Endpunkt) sind unter Bivalirudin nicht häufiger als unter Heparin plus GP-Blocker (9,2% vs. 10,0%; p = 0,32, Odds-Ratio (OR) 0,92 mit 95% Vertrauensbereich (CI) 0,77-1,09).

*

REPLACE = Randomized Evaluation in PCI Linking Angiomax to Reduced Clincal Events

Bei prädefinierten sekundären Endpunkten ergeben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede. Infarkte sind jedoch unter Bivalirudin numerisch häufiger (7,0% vs. 6,2%). Für verschiedene Subgruppen zeigen sich homogene Ergebnisse. Wichtig wären separate Analysen für PCI aus elektiver und dringlicher Indikation gewesen, da der Nutzen von GP-Blockern zusammen mit Heparin bei elektiven Eingriffen nicht ausreichend belegt ist,8 vor allem bei Vorbehandlung mit Clopidogrel (a-t 2004; 35: 18-9).9

Bei einer Folgeauswertung von REPLACE-2 nach sechs Monaten findet sich für den kombinierten Endpunkt aus Tod, Infarkt oder Revaskularisation des Zielgefäßes ein Trend zu Ungunsten von Bivalirudin gegenüber Heparin plus GP-Blocker (16,8% vs. 15,1%, p = 0,10).10

STÖRWIRKUNGEN: Blutungskomplikationen sind unter Bivalirudin in PCI-Studien mit insgesamt 12.000 Patienten seltener als unter Heparin (33% vs. 49%).6 Nur jede zehnte ist aber klinisch relevant. In REPLACE-2 treten schwerwiegende Blutungen (intrakraniell, retroperitoneal oder intraokulär, Hb- Abfall um mehr als 3 g/dl, zwei oder mehr Erythrozytenkonzentrate) unter Bivalirudin seltener auf als unter Heparin plus GP-Blocker (2,4% vs. 4,1%; p < 0,001). Nach den strikteren TIMI**-Kriterien11 ergibt sich hier jedoch kein signifikanter Unterschied (0,6% vs. 0,9%, p = 0,30), da in erster Linie punktionsbedingte Blutungen (0,8% vs. 2,5%; p < 0,001) vermindert werden.

**

TIMI = Thrombolysis in Myocardial Infarction

Thrombozytopenien kommen unter Bivaluridin seltener vor als unter Heparin plus GP-Blocker (0,7% vs. 1,7%; p < 0,001).9 Das Hirudin-Analogon kann erfolgreich und sicher bei Patienten mit Heparin-induzierter Thrombopenie (HIT) Typ II gegeben werden, die sich einer PCI unterziehen müssen.2,12 Die klinische Bedeutung der in Einzelfällen beobachteten Antikörper gegen Bivalirudin ist bisher unklar.6 Selten können Allergien bis hin zu letal verlaufenden Anaphylaxien auftreten. Vor der Anwendung bei Patienten mit Antikörpern gegen Lepirudin (REFLUDAN) wird gewarnt.3,6

Übelkeit und Erbrechen, Kopfschmerz, Blutdruckabfall, Bradykardien sowie Rücken-, Brust- und Bauchschmerzen werden in PCI-Studien unter Bivalirudin ähnlich häufig beobachtet wie unter Heparin-Regimen.3,6

KOSTEN: Bezogen auf 70 kg Körpergewicht (KG) kostet Bivalirudin (ANGIOX) pro PCI-Behandlung (Bolus 0,75 mg/kg KG, Infusion von 1,75 mg/kg KG x Std. bis OP-Ende) 511,36 € bis 1.022,72 €***. Für Abciximab (REOPRO; Bolus 0,25 mg/kg KG, Infusion von 0,125 µg/kg x min. über 12 Std.) sind 1.362,39 € (3 InjFl) aufzuwenden, für Eptifibatid (INTEGRILIN; Bolus 0,18 mg/kg KG, Infusion von 2 µg/kg KG x min. über 20-24 Std.) 267,54 € (3 InjFl zu 75 mg).

***

Bei längerer OP als 1,5 Std. wird zweite InjFl für 511,36 € benötigt.

Das Hirudin-Analog Bivalirudin (ANGIOX) - kombiniert mit einem Glykoprotein IIb/IIIa (GP)-Blocker nur im Falle thrombotischer Komplikation - scheint bei perkutaner Koronarintervention (PCI) ähnlich effektiv und mindestens so sicher zu sein wie Heparin (LIQUEMIN N u.a.) plus regelhafter Gabe von GP-Blockern.

Tendenziell seltenere ischämische Ereignisse und eine umfangreichere Datenlage sprechen derzeit für die bewährte Strategie mit Heparin ggf. plus GP-Blocker.

Erforderlich sind weitere Daten zur Effektivität von Bivalirudin plus GP-Blocker bei Bedarf im Rahmen einer elektiven PCI sowie von Bivalirudin plus routinemäßigem GP-Blocker - z.B. bei Patienten mit hohem Risiko.

Bivalirudin eignet sich für Patienten mit Heparin-induzierter Thrombozytopenie Typ II, die sich einer PCI unterziehen müssen.

 

 

(R = randomisierte Studie)

 

1

ANTMAN, E.M.: JAMA 2003; 289: 903- 5

 

2

SCIULLI, T.M., MAURO, V.F.: Ann. Pharmacother. 2002; 36: 1028-41

 

3

Nycomed: Fachinformation ANGIOX, Stand Sept. 2004

R

4

BITTL, J.A. et al.: Am. Heart J. 2001; 142: 952-9

R

5

BITTL, J.A. et al.: N. Engl. J. Med. 1995; 333: 764-9

 

6

EMEA: Europ. Bewertungsbericht ANGIOX; Sept. 2004;
http://www.emea.eu.int/humandocs/Humans/EPAR/angiox/angiox.htm

R

7

LINCOFF, A.M. et al.: JAMA 2003; 289: 853-63

 

8

PATRONO, C. et al.: Eur. Heart J. 2004; 25: 166-81

R

9

KASTRATI, A. et al.: N. Engl. J. Med. 2004; 350: 232-38

R

10

LINCOFF, A.M. et al.: JAMA 2004; 292: 696-703

R

11

RAO, A.K. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 1988; 11: 1-11

 

12

MAHAFFEY, K.W. et al.: J. Invasive Cardiol. 2003; 15: 611-16

© 2005 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.