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Korrespondenz

POLIOMYELITIS-PROPHYLAXE -
ORAL ODER PARENTERAL IMMUNISIEREN?

Ich wäre Ihnen für eine Stellungnahme zum aktuellen Stand in der Poliomyelitis-Prophylaxe dankbar. Nachdem zur Erstimpfung in den USA der oralen Gabe die Zulassung entzogen wurde (wegen impfinduzierter Erkrankungen), wird dort nun das parenteral zu applizierende VIRELON C empfohlen. Welche Darreichung sehen Sie als die geeignete an?

C. BRAEMER (Assistenzart)
D-22303 Hamburg

Die Schluckimpfung mit lebenden abgeschwächten Polioviren nach SABIN (ORAL-VIRELON u.a.) kann durch Mutation der Impfviren im Darm beim Impfling (Risiko 1:4,4 Mio Impfdosen) oder bei nicht ausreichend immunisierten Kontaktpersonen (1:15,5 Mio Impfdosen) eine spinale (Kinder-)Lähmung auslösen (a-t 9 [1996], 89). Bei Erstimpfung steigt das Risiko auf 1:750.000 Impfdosen.1,2

Nach fast zehnjähriger Diskussion empfehlen die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) daher statt der hierzulande üblichen dreimaligen Einnahme von Polio-Lebendimpfstoff jetzt - wie bereits in Dänemark und Polen üblich - eine sequentielle Impfung: zweimal inaktivierte Vakzine nach SALK (IVP MERIEUX, VIRELON C) parenteral, gefolgt von einer Dosis des Schluckimpfstoffs. Dadurch erhofft man sich, auf dem seit einigen Jahren poliofreien Kontinent zwei bis fünf der jährlich acht bis zehn Vakzine-assoziierten Polioerkrankungen zu verhindern. Bei Gesunden soll mit dem neuen Schema Impfpolio praktisch vollständig vermieden werden. Immungeschwächte Impflinge werden vermutlich etwa gleich häufig erkranken, da sich die Immunschwäche oft erst dadurch offenbart. Die Häufigkeit der Kontaktpolio könnte um etwa ein Viertel sinken, da insgesamt weniger Lebendimpfstoff verbraucht wird.3

In einigen Ländern - darunter Frankreich, die Niederlande und Schweden - wird nur die inaktivierte Poliovakzine verwendet. Diese schützt nur den Impfling. Der orale Lebendimpfstoff soll darüber hinaus die Verbreitung von importierten Wildviren verhindern, indem über die Herdimmunität im Darm deren Vermehrung gestört wird.

Ungeprüft ist, ob die über Jahrzehnte aufgebaute Akzeptanz der Oralprophylaxe ("Impfen ist süß, Kinderlähmung grausam") durch Umstellung auf unbeliebte Injektionen sinken wird. Mehrfachimpfstoffe, die auch inaktivierte Poliovakzine enthalten, sind noch in Vorbereitung.

Das sequentielle Schema würde die Impfstoffkosten pro Grundimmunisierung auf das Vierfache verteuern. Für 800.000 Kinder eines Jahrgangs wären demnach rund 80 Mio DM statt etwa 20 Mio DM aufzuwenden.

Fast sieht es so aus, als ob die Ständige Impfkommission (STIKO) hierzulande ebenso lange für die Entscheidung braucht wie die amerikanischen CDC. Wahrscheinlich wird auch bei uns trotz der erheblichen Mehrkosten der Weg zur sequentiellen Impfung gebahnt, spätestens wenn entsprechende Kombinationsvakzinen zur Verfügung stehen. Sind mehr Polioerkrankungen durch Impfung zu beklagen als durch das Wildvirus selbst, kann das Prinzip der Impfvorsorge in Misskredit geraten, -Red.

1

JOHNSON, D.: Brit. Med. J. 314 (1997), 465>

2

STIKO: Fax vom 21. April 1997

3

MILLER, M. A. et al.: J. Am. Med. Ass. 276 (1996), 967

4

STIKO: Epidemiol. Bull. 15 (1997), 102


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