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Korrespondenz

WAS GEHÖRT IN DIE ÄRZTLICHE NOTFALLTASCHE?

Unserer Bitte um Anregungen zu unserer in a-t 5 (1995), 50 zur Diskussion gestellten Medikamentenliste für die ärztliche Notfalltasche fand Gehör. Aus Gründen der Übersichtlichkeit zitieren wir nachfolgend aus den Briefen nach Themenschwerpunkten.

ZU UMFANGREICHE EMPFEHLUNGEN

Leider vergaßen Sie zu erwähnen, wieviele PS die "Notfalltasche" haben muß (es handelt sich wohl um einen Kleintransporter), um nicht bei einer kleinen Steigung liegenzubleiben!1

Wer soll das alles schleppen? Haben Sie die aufgeführten Materialien mal auf die Waage gestellt? Ich führe die Medikamente in weitaus geringeren Mengen mit mir, so etwa keine 4, sondern nur 1 Ampulle Theophyllin, keine 5, sondern nur 1 Ampulle MCP... Auf diese Weise erreiche ich einen höheren Turnover. Natürlich bedingt das, zumal im Sonntagsdienst, daß ich öfters die Praxis anlaufen muß, um verbrauchte Materialien aufzufüllen. Wer meint, das nicht zu können, sondern größere Medikamentenmengen mit sich führen will, dem seien zwei Taschen empfohlen, eine Akuttasche und eine Reservetasche, aus der er (sie) dann jeweils nachfüllen kann.2

Der "Notarzt" muß ja nicht jede Krankheit vor Ort sofort und umfassend therapieren, sondern er muß in der Lage sein, eine lebensbedrohliche Situation so weit zu entschärfen, daß gegebenenfalls ein gefahrloser Transport in die Klinik erfolgen kann. Als Zeitrahmen würde ich dabei maximal 15 Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes und maximal 30 Minuten bis zum anschließenden Eintreffen in der Klinik (mit Voranmeldung über Funk!) sehen. Bei nicht einweisungsnötigen Krankheiten (Asthma- oder Angina-pectoris-Anfall, Koliken etc.) müssen die mitgeführten Medikamente nur bis zum Einholen von Nachschub, gegebenenfalls aus der Apotheke (z. B. ASPIRIN) ausreichen.1

INHALT ZU KNAPP

Zu dem, was auf Ihrer Liste steht, führe ich noch Nahtbesteck und Verbandszeug mit mir, natürlich ein Lokalanästhetikum. Es kommt doch immer wieder vor, daß man kleinere Wunden sofort im Rahmen eines Hausbesuchs chirurgisch versorgen kann.2

In die ärztliche Notfalltasche gehören ohne jeden Zweifel WENDL-Tuben: Ch 28-30-32. Das sind Nasopharyngealkatheter aus rotem Weichgummi oder Siliko-Latex zur Freihaltung des oberen Luftweges, wie es bei allen Bewußtlosen nötig ist... In fast allen geläufigen Notbestecken sind die Tuben enthalten, z.B. im Ulmer Rettungskoffer, im Arztkoffer nach UNGEHEUER und im Schweizerischen Armee-Sanitätsbesteck.3

Prednis(ol)on: Es fehlt die rektale Applikationsform RECTODELT (Prednison) 100 mg für Kinder und Säuglinge. Indikation Pseudokrupp.4

Tetanie/tetanoide Krämpfe oder auch einfache starke Muskelkrämpfe sprechen gut auf ZENTRAMIN i.v. an, ein Mittel, das ich keinesfalls missen möchte.5

Schlangengifte, obwohl sie so wichtig sind, liegen ja leider außerhalb der "Reichweite" der meisten, gehören aber eigentlich, in homöopathischer Form natürlich (D10-D20) auch in jede ärztliche Notfalltasche. Ein Manko zum Schaden der Patienten, daß es (vorläufig) nicht so ist.5

ALLERGISCHE REAKTION

Adrenalin-Fertigspritzen (MINIJET ADRENALIN u.a.) haben sich mir nicht bewährt. Ich bevorzuge kleine Ampullen, die sich im Notfall auch mit Blut verdünnen lassen. Zusätzlich Kochsalzlösung.4

Meines Erachtens fehlt: Adrenalin als Medihaler für Ärzte, die in der Spritztechnik nicht so erfahren sind, zur Inhalation.4

Aus der Erfahrung, daß intravenös verabreichte Medikamente bei Kreislaufstillstand relativ ineffektiv sind, wurde die Empfehlung erarbeitet, beim Kreislaufstillstand Adrenalin via Tubus zu verabreichen. Diese Maßnahme hat sich in der Praxis gut bewährt. Eine i.v.-Gabe erscheint bei diesen Zuständen obsolet.13

Kortikoide: SOLU DECORTIN H muß aufgelöst werden, was als Nachteil gelten kann. FORTECORTIN (40 mg) hat diesen Nachteil nicht. Für eine 1000-mg-Ampulle sehe ich keine Indikation. Es fehlt eine Ampulle zu 50 mg.4

VOLON A solubile Ampullen – schneller verfügbar, da nicht erst die Trockensubstanz aufgelöst werden muß.6

ANTIDOTE

Naloxon (NARCANTI u.a.): Wer den Opiatbetäubten damit aufweckt, kann sich womöglich Schwierigkeiten einhandeln. Der Patient (oft drogenabhängig) wird eine Weiterbehandlung verweigern, womöglich weglaufen. Da das Antidot nicht so lange wirkt wie das Opiat, wird er nach einiger Zeit eventuell wieder in den Rausch verfallen. Was mir sympathischer ist: Die Opiatwirkung bestehen lassen, für genügende Oxygenierung durch Beatmung/Intubation sorgen und die Weiterbehandlung dem Notarzt überlassen.2

Es empfiehlt sich, neben dem Antidot Naloxon gegen Opiatintoxikation auch das Antidot Flumazenil (ANEXATE) gegen Atemversagen bei Benzodiazepin- Überdosierungen in der Notfalltasche vorrätig zu haben. Zum einen treten Benzodiazepin-Überdosierungen bei Mischintoxikationen mit Opiaten auf, zum anderen aber auch bei der Einnahme von Benzodiazepinen in suizidaler Absicht.7

Es fehlt Kohle (KOHLE PULVIS, im Becher) – demnächst wohl schon als trinkfertige Suspension zu haben.6

ASTHMA BRONCHIALE

Zu ergänzen: Autohaler (Beclomethason/AEROBEC 250 Autohaler [bei Inhalationstrauma]; Salbutamol/SALBULAIR Autohaler) sind im Notfall wegen oft problematischer Koordination mit normalen Dosieraerosolen sicherer anzuwenden.6

Ich sehe für Salbutamol-Dosieraerosole keine Indikation. In die Notfalltasche gehört eine i.v.-spritzbare Ampulle wie z.B. BRONCHOSPASMIN, nicht BRICANYL (nur s.c. zugelassen, was zwar auch wirkt, jedoch gibt man bei Notfällen die Medikation besser i.v.).4

Der Asthmapatient besitzt Salbutamol (o.ä.)-Sprays im Übermaß und hat sie meist schon alle geleert, wenn er nach dem Arzt ruft. Hier ist dann (schon aus psychologischen Gründen) die i.v.-Therapie sinnvoll. Inhalierbare Betamimetika können aber sinnvoll sein bei Frühgeburtsbestrebungen.2

AUGENERKRANKUNGEN

Ich sehe keine Indikation für Proxymetacain (PROPARAKAIN-POS u.a.) und Pilokarpin (PILOMANN u.a.) und Azetazolamid (DIAMOX u.a.). Ich habe in den letzten 25 Jahren solche Medikamente nicht gebraucht.4

Die Mitnahme von Augentropfen in 10-ml-Flaschen ist nicht mehr zeitgemäß, seit entsprechende Wirkstoffe in Einzeldosenbehältnissen zur Verfügung stehen. Eine angebrochene Tropfflasche ist höchstens sechs Wochen haltbar. Als Lokalanästhetikum zur Tropfanästhesie empfehle ich daher Oxybuprocain-HCl (BENOXINAT SE THILO 10 x 0,4 ml).8

Da in unserem Land fast überall jederzeit relativ schnell ein Augenarzt erreichbar ist, halte ich es nicht für sinnvoll, daß der "Notfallarzt" bei Verdacht auf einen Glaukomanfall diesen sofort therapiert ohne vorherige Sicherung der Diagnose durch eine Augendruckmessung und eine spaltlampenmikroskopische Untersuchung. Da ein Glaukomanfall auch über die akute Notfallbehandlung hinaus Konsequenzen hat (heute meist durchgeführt: beidseitige Laseriridotomie), empfehle ich bei Verdacht auf einen Glaukomanfall eine sofortige Vorstellung beim Augenarzt bzw. in einer Augenambulanz ohne Verschleierung der Symptomatik durch eine vorherige Notfallbehandlung.8

BLUTVERLUST

Standard immer noch Hydroxiethylstärke (HAES) 10% (oder 6%) – trotz eventueller Allergiegefahr. Zukünftig Mittel der Wahl eventuell hypertone Kochsalzlösung.6

HERZ-KREISLAUF

Bei supraventrikulären Tachykardien: Adenosin (ADREKAR)-Ampullen (in den USA bereits Standard).6

Furosemid (FURO VON CT u.a.) ist zu niedrig dosiert. 40-mg-Ampullen sind besser.4

Lidokain (XYLOCAIN u.a.) bei ventrikulären Tachykardien: Bei Infarktverdacht rufe ich ohnehin RTW und NEF. Bis ich einen Zugang gelegt und ein EKG geschrieben habe, sind diese Helfer zur Stelle und bringen dann auch Lidokain mit. Auch unter dem Aspekt der Volumen- und Gewichtsersparnis verzichte ich auf dieses Medikament.2

Ich sehe keine Indikation für Verapamil (VERAHEXAL u.a.) im Notfalldienst. Die Gabe sämtlicher Antiarrhythmika (außer Lidokain) außerhalb eines Krankenhauses ist bedenklich und auch unnötig (Einweisung).4

INFEKTION

Dexamethason (DEXAHEXAL u.a.) bietet im Notfalldienst gegenüber Prednisolon (SOLU-DECORTIN H u.a.) keine so großen Vorteile, daß die Mitnahme gerechtfertigt erscheint. Kinder mit Meningokokkeninfekt werden notfallmäßig ohne Therapie stationär eingewiesen.4

Penizillin (PENICILLIN GRÜNENTHAL u.a.) bei Verdacht auf Meningokokkeninfektion: In meinem konkreten Fall ist die nächste Kinderklinik zehn Fahrminuten entfernt. Da erübrigt sich eine antibiotische Anbehandlung, die zudem noch eine Keimbestimmung erschwert.2

NEUROLOGISCH/PSYCHIATRISCHE NOTFÄLLE:

Es fehlen Promethazin (ATOSIL u.a.) und/oder Triflupromazin (PSYQUIL), Diazepam (VALIUM MM Ampullen, weniger schmerzhaft bei i.v.- Injektion).6

Bei Biperiden (AKINETON u.a.) gegen Hyperkinesen meinen Sie wahrscheinlich Dyskinesien, wie sie in Form von Zungen-Schlund-Krämpfen oder Torticollis, z.B. in der Initialphase einer Neuroleptikabehandlung auftreten können. Bei Hyperkinesen ist die Wirkung des Biperiden gering, und es gibt auch Hinweise auf eine Verschlechterung der Symptomatik. Außerdem stellen Hyperkinesen keinen Notfall dar.9

Sicherlich kann ein akuter Angstzustand durch i.v.-Gabe von Diazepam (DIAZEPAM DESITIN u.a.) rasch beendet werden. Meines Erachtens sollte diese Maßnahme aber erst in zweiter Linie zur Anwendung kommen. Zunächst sollte versucht werden, auf den Kranken verbal beruhigend einzuwirken oder z.B. einen Hyperventilationszustand durch Plastiktütenrückatmung und Erklärung des (patho)physiologischen Mechanismus zu beenden. Andernfalls wird der Kranke in seinem Empfinden, hilflos einer großen Gefahr gegenübergestanden zu haben und nur durch (dramatische) medikamentöse Hilfe gerettet worden zu sein, unnötig bestärkt. Dies trägt nach meiner Erfahrung zu einer Chronifizierung von Angsterkrankungen bei und ebnet manchmal auch den Weg in die Medikamentenabhängigkeit.9

SCHMERZEN

Es fehlen Ketamin (KETANEST) – starke Schmerzen, kein Betäubungsmittel – und Tramadol (TRAMAL u.a.) – mittelstarke bis starke Schmerzen, keine Atemdepression.6

Diclofenac (VOLTAREN u.a.) führe ich auch als Ampulle mit mir. Ich weiß zwar, daß die orale bzw. rektale Form genausogut wirkt, die Patienten glauben dies aber oft nicht. So gesehen ist die Diclofenac-Ampulle teilweise ein Plazebo, da zu der pharmakologischen Wirkung die mindestens genauso große psychologische tritt.2

Trotz Warnmeldung sind Diclofenac-Ampullen immer noch wertvoll und sollten mitgeführt werden. Alternativ bietet sich VOLTAREN DISPERS an. 50 mg (2 Tabletten = 100 mg) mit einer schnellen Wirksamkeit und Resorption. Diclofenac Zäpfchen haben sich mir nicht bewährt.4

Parazetamol (DOLOREDUCT u.a.): äußerstenfalls als Service für die Patienten.4

Für stärkere Schmerzen (z.B. nach Verbrennungen) hat sich bei Kindern die Kombination von Parazetamol und Kodeinphosphat als Supp. bewährt (z.B. als TALVOSILEN).10

HYPERTENSIVE KRISE

5 mg Nifedipin (NIFEDIPIN 5 HEUMANN u.a.) ist eine zu niedrige Dosierung. Besser 10 mg oder sogar 20 mg.4

Ich vermisse in Ihrer Übersicht das Medikament Captopril (LOPIRIN u.a.), welches mir in den vergangenen Jahren bei hypertensiven Krisen ebenso wie beim Lungenödem eine erstaunliche Hilfe war. 12,5-25 mg sublingual beherrschten jede hypertensive Krise, und in der gleichen Dosis ließen sich auch die in den letzten vier Jahren gesehenen vier Lungenödeme innerhalb von maximal 20 Minuten beherrschen, so daß die Patienten bei Eintreffen des Notarztwagens das Schlimmste schon überstanden hatten.11

SCHEINMEDIKAMENTE

Die Mitnahme eines Plazebos halte ich für falsch. Auch juristisch erfüllt die Gabe von Plazebos bei Patienten besonders im Notfalldienst den Tatbestand des Betruges. Medizinisch sehe ich keine Indikation. Ein solcher Patient soll in die nächste Sprechstunde seines Hausarztes gehen!4

RICHTIGSTELLUNG

Die Haltbarkeit von VOMEX A Ampullen als intravenöse Lösung und intramuskuläre Lösung beträgt nur 3 Jahre und nicht wie angegeben 5 Jahre.12


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