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Therapiekritik

NEUE DATEN ZUM KARDIOVASKULÄREN
UND GASTROINTESTINALEN RISIKO VON NSAR

Während die gastrointestinale Toxizität von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) seit Langem gefürchtet ist, wurden atherothrombotische Komplikationen wie Herzinfarkt als unerwünschte Wirkungen erst bekannt, nachdem sie in (plazebo)-kontrollierten Studien mit Cox-2-Hemmern aufgefallen waren. Wenngleich weniger gut gesichert, sprechen die Daten aus randomisierten kontrollierten Studien wie auch aus Beobachtungsstudien für ein entsprechendes Risikopotenzial auch von klassischen NSAR. Einzige Ausnahme ist nach derzeitigem Kenntnisstand Naproxen (NAPROXEN STADA u.a. Generika; a-t 2007; 38: 1-3).

NEUE METAANALYSE: Eine umfassende Metaanalyse von 280 plazebokontrollierten randomisierten NSAR-Studien und 474 randomisierten Direktvergleichen von NSAR, zum großen Teil mit individuellen Patientendaten, bestätigt jetzt den Verdacht, dass hochdosiertes Diclofenac (VOLTAREN, Generika; meist 150 mg/Tag) das kardiovaskuläre Risiko im Vergleich zu Plazebo signifikant um relativ 41% und damit in ähnlichem Ausmaß steigert wie die gemeinsam ausgewerteten Coxibe (siehe Tabelle 1, Seite 67). Der Anstieg beruht vor allem auf einer Zunahme koronarer Ereignisse. Vaskulär bedingte Todesfälle nehmen unter Coxiben und Diclofenac ebenfalls zu. Die beiden im Markt verbliebenen peroralen Cox-2-Hemmer Celecoxib (CELEBREX) und Etoricoxib (ARCOXIA, EXINEF) unterscheiden sich auch in Einzelanalysen hinsichtlich des kardiovaskulären Risikos nicht von Diclofenac. Nur Coxibe, nicht aber Diclofenac, gehen mit signifikant erhöhter Gesamtsterblichkeit einher. Wegen der begrenzten Zahl plazebokontrollierter Studien mit klassischen NSAR fließen in die Metaanalyse auch indirekte Vergleiche ein, die methodisch bedingt mit einer höheren Ergebnisunsicherheit behaftet sind. Die klassischen NSAR wurden in den ausgewerteten Studien zudem überwiegend hoch dosiert.1

Hochdosiertes Ibuprofen (IBUBETA u.a.; 2.400 mg/Tag) steigert das Risiko koronarer Komplikationen ebenfalls signifikant. Auch im Hinblick auf vaskulär bedingten Tod und kardiovaskuläre Komplikationen insgesamt spricht der Punktschätzer für ein erhöhtes Risiko unter Ibuprofen, das allerdings - bei weiten Konfidenzintervallen - statistisch nicht zu sichern ist. Die verbleibende Unsicherheit mag damit zusammenhängen, dass der Datenpool zu Ibuprofen deutlich kleiner ist als der zu den anderen NSAR. Einzig in Verbindung mit Naproxen (meist 1.000 mg/Tag) ist kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko zu erkennen. Die blanden Daten zu Schlaganfällen unter allen NSAR könnten durch die insgesamt geringe Fallzahl bedingt sein und erscheinen den Autoren wegen der blutdrucksteigernden Wirkung der Mittel unplausibel.1

Krankenhausaufnahmen wegen Herzinsuffizienz, ein schon länger bekanntes Risiko von NSAR (vgl. a-t 2000; 31: 46-7), kommen unter allen hier untersuchten Wirkstoffen etwa doppelt so häufig vor wie unter Plazebo. Obere gastrointestinale Komplikationen, in erster Linie Magen-Darm-Blutungen, nehmen ebenfalls unter allen NSAR signifikant zu, unter Ibuprofen und Naproxen allerdings stärker als unter Coxiben und Diclofenac.1

In Studien mit verfügbaren individuellen Patientendaten beträgt das mittlere Alter 61 Jahre, zwei Drittel der Teilnehmer sind Frauen. 20% haben Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) eingenommen, 17% einen Protonenpumpenhemmer. In Subgruppenanalysen zeigt sich unter Naproxen auch bei gleichzeitiger ASS-Einnahme kein Anstieg des kardiovaskulären Risikos - allerdings auf der Basis kleiner Zahlen.1

Die Autoren schätzen auf der Grundlage ihrer Daten auch den absoluten Anstieg vaskulärer und gastrointestinaler Komplikationen unter NSAR. Coxibe und Diclofenac würden danach pro 1.000 Patienten pro Jahr etwa drei zusätzliche kardiovaskuläre Komplikationen verursachen, von denen etwa eine tödlich verläuft. Unter Ibuprofen wäre der Risikoanstieg ähnlich hoch, wenngleich dies mit mehr Unsicherheit behaftet ist. Da die relativen Risikozunahmen in unterschiedlichen Patientengruppen, einschließlich der mehr oder weniger gefährdeten Patienten, ähnlich ausfallen, kalkulieren die Autoren für die einzelnen NSAR auch nach Ausgangsrisiko gestaffelte Schätzwerte zum absoluten Risikoanstieg (Tabelle 2, Seite 67). Während die kardiovaskulären Komplikationen zu etwa einem Drittel tödlich verlaufen, sind es laut den Studiendaten bei den gastrointestinalen nur 2%.1

Tabelle 1: Relatives Risiko* kardiovaskulärer und gastrointestinaler Komplikationen unter NSAR im Plazebovergleich, nach1

 CoxibeDiclofenacIbuprofenNaproxen

kardiovaskuläre Komplikationen 1,37
1,14-1,66
1,41
1,12-1,78
1,44
0,89-2,33
0,93
0,69-1,27
koronare Komplikationen 1,76
1,31-2,37
1,70
1,19-2,41
2,22
1,10-4,48
0,84
0,52-1,35
vaskulär bedingter Tod 1,58
1,00-2,49
p = 0,01
1,65
0,95-2,85
p = 0,019
1,90
0,56-6,41
1,08
0,48-2,47
Schlaganfall 1,09
0,78-1,52
1,18
0,79-1,78
0,97
0,42-2,24
0,97
0,59-1,60
Herzinsuffizienz 2,28
1,62-3,20
1,85
1,17-2,94
2,49
1,19-5,20
1,87
1,10-3,16

obere gastrointest. Komplikationen 1,81
1,17-2,81
1,89
1,16-3,09
3,97
2,22-7,10
4,22
2,71-6,56

* sowie Angabe der 95% Konfidenzintervalle, signifikante Risikoanstiege in fett
Tabelle 2: Geschätzte absolute Zunahme kardiovaskulärer und oberer gastrointestinaler Komplikationen unter NSAR pro 1.000 Patienten pro Jahr bei unterschiedlichem Ausgangsrisiko, davon tödlich verlaufende Ereignisse in Klammern, nach1

Ausgangsrisiko*CoxibeDiclofenacIbuprofenNaproxen
  ↓   ↑     ↓   ↑    ↓   ↑    ↓   ↑   

kardiovaskuläre
Komplikationen
27 (2)28 (2)29 (3)--
obere gastrointest.
Komplikationen
2424615616

* kardiovaskuläre Komplikationen: niedriges (↓) Ausgangsrisiko 0,5%/Jahr, hohes (↑) 2%/Jahr; gastrointestinale Komplikationen: niedriges (↓) Ausgangsrisiko 0,2%/Jahr, mäßiges (↑) 0,5%/Jahr

BEOBACHTUNGSSTUDIEN: Offen bleibt, inwieweit die Risiken dosisabhängig sind und ob - wie bei den gastrointestinalen Komplikationen - auch im Hinblick auf kardiovaskuläre Komplikationen das Risiko frühzeitig ansteigt. Nach einem 2011 publizierten systematischen Review von Beobachtungsstudien, die wegen Verzerrungsgefahr aber mit Vorsicht interpretiert werden müssen, nimmt das kardiovaskuläre Risiko unter Rofecoxib (außer Handel: VIOXX), Celecoxib und Diclofenac auch schon in geringer Dosierung zu und steigt unter hohen Dosierungen weiter an. Ibuprofen steigert das Risiko danach nur unter hohen Dosierungen, dann aber ähnlich wie die Coxibe und Diclofenac in Hochdosen. Naproxen ist in hohen und niedrigen Dosierungen bezüglich des kardiovaskulären Risikos neutral.2 Nach der Mehrzahl der Beobachtungsstudien mit Neuanwendern von NSAR (9 von 12) zeigt sich ein Anstieg des kardiovaskulären Risikos bereits innerhalb von 30 Tagen. Nach drei Studien beginnt er im Median innerhalb von 14 Einnahmetagen.2 Eine 2012 publizierte systematische Übersicht von Beobachtungsstudien bestätigt die dosisabhängige Zunahme auch für das Risiko gastrointestinaler Komplikationen unter NSAR.3

BEWERTUNG DURCH EMA: Das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der europäischen Arzneimittelbehörde EMA hat Mitte Juni sein im Oktober 2012 eingeleitetes Bewertungsverfahren zu Diclofenac, in das auch die aktuelle Metaanalyse eingeflossen ist, abgeschlossen. Auch nach Einschätzung des PRAC unterscheidet sich das kardiovaskuläre Risiko unter Diclofenac nicht von dem unter Coxiben. Das Komitee empfiehlt daher für Diclofenac die gleichen Kontraindikationen und Vorsichtsmaßnahmen, wie sie auch für Coxibe gelten: keine Anwendung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt in der Vorgeschichte und Vorsicht bei Vorliegen von kardiovaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes oder Rauchen.4

ANWENDUNGSREALITÄT: Obgleich der Verdacht auf ein den Coxiben ähnliches kardiovaskuläres Risiko unter Diclofenac bereits seit Mitte der 2000er Jahre besteht, ist Diclofenac nach einer Erhebung in 15 verschiedenen Ländern weltweit nach wie vor das meist verkaufte NSAR.5 Hierzulande wird es neuerdings nur von Ibuprofen knapp überholt.6 Diclofenac und Ibuprofen sind auch die von GKV Spitzenverband und KBV vorgegebenen Leitsubstanzen unter den NSAR, die zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherungen bevorzugt verordnet werden sollen.7 Diese Einstufung dürfte auf einem veralteten Kenntnisstand beruhen, als gastrointestinale Störwirkungen als die wichtigsten unerwünschten Effekte von NSAR galten und Diclofenac und Ibuprofen diesbezüglich zu den klassischen NSAR mit dem günstigsten Risikoprofil zählten (vgl. a-t 2000; 31: 91-2, 97).

AUSWAHL: Wie schon 2007 sehen wir auch weiterhin aufgrund der Daten Naproxen bei allen Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko und bei allen Patienten, die eine Langzeittherapie benötigen, als Mittel der Wahl an. Bei gleichzeitig erhöhtem gastrointestinalen Risiko soll zusätzlich prophylaktisch ein Protonenpumpenhemmer eingenommen werden, z.B. täglich 20 mg Omeprazol (ANTRA, Generika). Vor Beginn einer Langzeittherapie sollte eine ggf. bestehende Helicobacter-pylori-Infektion eradiziert werden. Im Alter sollen NSAR möglichst ganz vermieden werden. Sind sie unumgänglich, ist bei erhöhtem kardiovaskulären Risiko oder längerfristiger Therapie hier unseres Erachtens ebenfalls Naproxen Mittel der Wahl. Wie für Ibuprofen gibt es auch für Naproxen Hinweise auf Interaktionen mit der Thrombozytenaggregationshemmung durch ASS aus Studien mit gesunden Probanden. Die Datenlage ist allerdings widersprüchlich und die klinische Relevanz unklar. Vorsichtshalber sollte Naproxen bei Komedikation zwei Stunden nach ASS eingenommen werden.8

Für die Kurzzeitbehandlung akuter Schmerzen über einige Tage kann unseres Erachtens bei Patienten ohne erhöhtes kardiovaskuläres Risiko - und insbesondere bei erhöhter gastrointestinaler Gefährdung - nach wie vor Diclofenac eingenommen werden, ggf. mit Protonenpumpenhemmer. Alternativ kommt auch hier Naproxen in Betracht, insbesondere wenn kein erhöhtes gastrointestinales Risiko besteht. Für die Einschätzung der Sicherheit von Ibuprofen sind weitere Daten erforderlich. Die Kurzzeiteinnahme insbesondere niedriger Dosierungen halten wir bei Patienten ohne kardiovaskuläres Risiko jedoch nach wie vor für vertretbar.

∎  Nach einer aktuellen umfassenden Metaanalyse randomisierter Studien steigert das nichtsteroidale Antirheumatikum (NSAR) Diclofenac (VOLTAREN, Generika) das kardiovaskuläre Risiko ähnlich wie Cox-2-Hemmer, z.B. Celecoxib (CELEBREX).

∎  Für Diclofenac sollen nach Empfehlungen des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee der europäischen Arzneimittelbehörde EMA in Zukunft ähnliche Kontraindikationen und Vorsichtsmaßnahmen gelten wie für Coxibe.

∎  Ibuprofen (IBUPROFEN ATID u.a. Generika) hat nach den neuen Daten ein ähnlich ungünstiges kardiovaskuläres Risikoprofil, was aber, möglicherweise wegen zu geringer Fallzahlen, mit größerer Unsicherheit behaftet ist. Zur Sicherheit von Ibuprofen werden weitere Daten benötigt.

∎  Naproxen (NAPROXEN STADA u.a. Generika) ist weiterhin das NSAR mit der besten kardiovaskulären Verträglichkeit.

∎  Alle NSAR steigern das gastrointestinale Risiko, Ibuprofen und Naproxen aber stärker als Diclofenac oder Coxibe.

∎  Naproxen ist Mittel der Wahl bei allen Patienten mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko und bei allen Patienten, die eine Langzeittherapie benötigen, ggf. mit einem Protonenpumpenhemmer.

∎  Bei Komedikation mit Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) sollte Naproxen vorsichtshalber zwei Stunden nach ASS eingenommen werden.

∎  Für die Kurzzeittherapie akuter Schmerzen über wenige Tage scheinen uns Diclofenac und Ibuprofen bei Patienten ohne relevantes kardiovaskuläres Risiko nach wie vor vertretbar.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
M1Coxib and traditional NSAID Trialists' (CNT) Collaboration: Lancet, online publ. am 30. Mai 2013 doi:10.1016/S0140-6736(13)60900-9 (11 Seiten plus Appendix)
M2McGETTIGAN, P., HENRY, D.: PLOS Medicine 2011; 8: e1001098
M3CASTELLSAGUE, J. et al.: Drug Saf. 2012; 35: 1127-46
 4EMA: PRAC recommends the same cardiovascular precautions for diclofenac as for selective COX-2 inhibitors, 14. Juni 2013;
http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Referrals_document/Diclofenac-containing_medicinal_products/Recommendation_provided_by_Pharmacovigilance_Risk_Assessment_Committee/WC500144452.pdf
 5McGETTIGAN, P., HENRY, D.: PLOS Medicine 2013; 10: e1001388
 6BÖGER, R.H., SCHMIDT, G.: in: SCHWABE, U., PAFFRATH, D. (Hrsg.): ”Arzneiverordnungs-Report 2012”, Springer Medizin Verlag Berlin, Heidelberg 2012, Seite 448-67
 7GKV Spitzenverband, Kassenärztliche Bundesvereinigung: Rahmenvorgaben nach § 84 Abs. 7 SGB V - Arzneimittel für das Jahr 2013, Okt. 2012
http://www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/arzneimittel/rahmenvertraege/rahmenvertraege.jsp
 8ANZELLOTTI, P. et al.: Arthritis Rheum. 2011; 63: 850-9

© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 16. August 2013

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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