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Therapiekritik

FLÜSSIGE ARZNEIMITTEL: BESONDERES RISIKO VON MEDIKATIONSFEHLERN

Flüssige Arzneimittel können Fehldosierungen begünstigen, beispielsweise bei Austausch verschiedener Dosisstärken, durch von Präparat zu Präparat unterschiedliche oder ungeeignete Applikationshilfen oder unkonkrete bzw. missverständliche Dosisangaben für die Patienten. Gefährdet sind vor allem Kinder, die häufig flüssige Zubereitungen erhalten, um eine gewichts- oder altersadaptierte Dosierung zu ermöglichen, sowie ältere Patienten.

Überdosierungen des Opioid-Analgetikums Tramadol (TRAMAL, Generika) um das Fünffache aufgrund des Nebeneinanders von Fläschchen mit Tropfeinsatz und Dosierpumpe werden bereits seit zwei Jahrzehnten beschrieben (a-t 2002; 33: 66). Sie können Folge eines Austauschs (aut idem) von Präparaten mit Tropfeinsatz (1 Tropfen = 2,5 mg) gegen eine gleiche Packungsgröße mit Dosierpumpe (1 Hub = 12,5 mg) sein, wenn versäumt wird, die Dosis entsprechend anzupassen.1 Sollen beispielsweise 50 mg eingenommen werden, muss in diesem Fall die Dosisanweisung von 20 Tropfen zu 2,5 mg auf 4 Hub umgestellt werden. Dosisanpassungen können auch dann erforderlich werden, wenn lediglich eine andere Packungsgröße des gleichen Handelspräparates verordnet wird, statt 20 ml TRAMAL2 (Tropfeinsatz) beispielsweise 50 ml (Dosierpumpe). Selbst wenn die Wirkstoffkonzentration identisch ist – Tramadol-Tropfen aller Anbieter enthalten 100 mg/ ml –, drohen dann Dosierfehler, wenn sich die Wirkstoffmenge pro Tropfen aufgrund unterschiedlicher Viskosität unterscheidet. So enthält 1 Tropfen TRAMAL2 2,5 mg Tramadol (1 ml = 40 Tropfen), 1 Tropfen TRAMADOL AXCOUNT3 hingegen 4 mg (1 ml = 25 Tropfen). Eine Dosisangabe von 20 Tropfen kann somit 50 mg oder 80 mg Wirkstoff entsprechen. Um Fehlassoziationen zu vermeiden, sollen auf Empfehlung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Präparate, die mit Dosierpumpe angeboten werden, vorsichtshalber nicht mehr als Tropfen, sondern als Lösung bezeichnet werden.1

Eine unterschiedliche Wirkstoffmenge pro Tropfen kann auch beim stark sedierend wirkenden Neuroleptikum Levomepromazin zur falschen Einnahmemenge führen.1 Zwar enthalten beide angebotenen Präparate 40 mg/ml, bei NEUROCIL4 jedoch verteilt auf 40 Tropfen (1 mg pro Tropfen), bei LEVOMEPROMAZIN-NEURAXPHARM5 hingegen auf 20 Tropfen (2 mg pro Tropfen).6

Die Skalierung von Dosierpipetten birgt eine weitere Fehlerquelle: So wird über eine Überdosis des Butyrophenon-Neuroleptikums Haloperidol berichtet: Statt der von HALOPERIDOL-NEURAXPHARM 2 mg/ml verordneten Dosis von 3 mg nahm ein Patient jeweils 3 ml Lösung ein, also die doppelte Wirkstoffmenge, da die Dosierpipette nur in Milliliter skaliert war. Die Pipette von HALDOL-JANSSEN 2 mg/ml ist hingegen sowohl in Milliliter als auch in Milligramm skaliert.1

Tropfen und Saft mit dem Antiepileptikum Valproinsäure (ERGENYL, Generika) galten zunächst formal als austauschbar, da sie identisch dosiert werden können. Vom geringer konzentrierten Saft werden allerdings fünfmal mehr Milliliter benötigt, um die gleiche Dosis zu erzielen. Obwohl inzwischen die Wirkstoffmenge in die Handelsnamen von Saft (60 mg/ml) und Tropfen (300 mg/ml) integriert wurde und sich die Vertragspartner des Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung darauf geeinigt haben sollen, dass unterschiedlich konzentrierte Valproatlösungen formell nicht mehr austauschbar sind, kommt es immer noch zu Medikationsfehlern.1

Generell ist bei Verordnung flüssiger Zubereitungen, vor allem solcher mit enger therapeutischer Breite, besondere Vorsicht angebracht, um Dosierungsfehler zu verhindern.

Zu prüfen ist jeweils, ob infolge des Austauschs einer Packungsgröße oder eines Handelspräparates die Angaben zur Dosierung angepasst werden müssen.

1PARRAU, N. et al.: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2021; Nr. 2: 25-35; http://www.a-turl.de/?k=artz
2Grünenthal: Fachinformation TRAMAL 100 mg/ml Lösung, Stand Sept. 2019
3Axcount: Fachinformation TRAMADOL AXCOUNT Tropfen, Stand Mai 2021
4Desitin: Fachinformation NEUROCIL, Stand Febr. 2021
5Neuraxpharm: Fachinformation LEVOMEPROMAZIN-NEURAXPHARM 40 mg/ml Tropfen, Stand Aug. 2014
6BfArM: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2017; Nr. 2: 39; http://www.a-turl.de/?k=aige

© 2021 arznei-telegramm, publiziert am 16. Juli 2021

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