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Im Blickpunkt

NEUES ZUR VARIZELLENIMPFUNG

Seit 2004 empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO), alle Säuglinge und Kleinkinder im Alter von 11 bis 14 Monaten gegen Windpocken zu impfen (a-t 2004; 35: 80-1). Damals lagen zwei ältere randomisierte plazebokontrollierte Studien1,2 vor, in denen die einmalige Immunisierung mit einer monovalenten Windpockenvakzine die Häufigkeit von Varizellenerkrankungen um 88% (VARILRIX, Beobachtungszeitraum 2,5 Jahre)1 bzw. um 100% (VARIVAX, Beobachtungszeitraum 9 Monate)2* senkt. In Beobachtungsstudien werden zum Teil deutlich geringere Schutzraten ermittelt: Nach einem systematischen Review der WHO4 liegt die Effektivität gegen Varizellenerkrankungen aller Schweregrade in den 40 eingeschlossenen Arbeiten, die meist Erkrankungsausbrüche in den USA untersuchen und einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren nach einmaliger Immunisierung erfassen, zwischen 20% und 100% (im Mittel 80%). Schwere Erkrankungen – in den Studien unterschiedlich definiert nach Zahl der Läsionen (> 200 bis > 500) und/oder Komplikationen, Hospitalisierung bzw. verschiedenen Krankheitsscores – werden jedoch in 17 von 18 ausgewerteten Untersuchungen vollständig verhindert (mittlere Effektivität 99%).3,4

* Die Aussagekraft dieser Untersuchung ist allerdings begrenzt, da die verwendete Formulierung offenbar um ein Mehrfaches höher dosiert war als die bis heute angebotene Zubereitung.3

Ob die beobachteten Durchbruchserkrankungen auf primäres oder sekundäres Impfversagen aufgrund nachlassender Immunität oder auf eine Kombination aus beidem zurückzuführen sind, ist unklar.3 Sie haben aber die USA dazu veranlasst, ab 2006 eine zweimalige Immunisierung zu empfehlen (a-t 2007; 38: 39). Seit 2009 rät auch die STIKO zu einer zweiten Dosis.5 Die Annahme, dass zwei Impfungen besser sind als eine, stützte sich bis vor Kurzem neben Immunogenitätsdaten und dem Nachweis eines weiteren Rückgangs der Varizelleninzidenz in den USA nach Einführung der zweiten Dosis im Wesentlichen auf Beobachtungsstudien: In sieben Untersuchungen wird für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren eine Effektivität gegen Windpockenerkrankungen aller Schweregrade von 84% bis 98% errechnet (im Mittel 93%).3,4 Zudem erkranken in einer Studie mit ursprünglich mehr als 2.000 randomisierten Kindern zwischen 1 und 12 Jahren, von denen etwa 60% bis zu zehn Jahre lang nachbeobachtet werden, nach zweimaliger Immunisierung deutlich weniger an Varizellen als nach einer Dosis (2,2% vs. 7,3%).6 Im Hinblick auf schwere Varizellenerkrankungen ist für die zweimalige Immunisierung kein Vorteil gegenüber einer Impfdosis erkennbar.4

Seit April 2014 liegen erstmals Daten einer auf zehn Jahre angelegten dreiarmigen randomisierten Studie vor, in der die Erkrankungsraten nach einmaliger oder zweimaliger Immunisierung mit der einer nicht geimpften Kontrollgruppe verglichen werden.7 In zehn europäischen Ländern, in denen eine generelle Varizellenimpfung bislang nicht empfohlen wird, erhalten insgesamt 5.800 Kinder zwischen 12 und 22 Monaten entweder zweimal im Abstand von sechs Wochen die Masern-Mumps-Röteln-Varizella (MMRV)-Vakzine PRIORIX TETRA oder eine Dosis des Masern-Mumps-Röteln (MMR)-Impfstoffes PRIORIX sowie sechs Wochen später eine Dosis des Windpockenimpfstoffs VARILRIX oder aber ausschließlich die MMR-Vakzine. Mehr als 80% der Kinder stammen aus Osteuropa einschließlich Russland. Berichtet werden die Ergebnisse einer Zwischenanalyse nach im Mittel drei Jahren: In diesem Zeitraum erkrankten insgesamt 481 Kinder an Windpocken. Die Inzidenz in der Kontrollgruppe beträgt 10,4/100 Kinder/ Jahr. Für die zweimalige Immunisierung wird eine Schutzrate von 94,9% (97,5% Konfidenzintervall [CI] 92,4-96,6; Inzidenz 0,6/100 Kinder/Jahr) gegen Windpockenerkrankungen aller Schweregrade errechnet. Die einmalige Immunisierung gegen Varizellen schneidet deutlich schlechter ab und verfehlt den primären Endpunkt einer mindestens 60%igen Senkung der Krankheitslast** (Effektivität 65,4%; 97,5% CI 57,2-72,1; Inzidenz 3,8/100 Kinder/Jahr). Nur in dieser Gruppe erkranken drei Kinder zweimal an Windpocken. Im Hinblick auf moderate oder schwere Krankheitsverläufe*** liegen die Schutzraten mit 99,5% (97,5% CI 97,5-99,9) nach zweimaliger Immunisierung und 90,7% (85,9-93,9) nach einer Dosis etwas näher beieinander. Ob in der Studie schwere Komplikationen wie Pneumonie oder Enzephalitis aufgetreten sind, wird nicht mitgeteilt. Im Mittel verlaufen die Erkrankungen bei Geimpften leicht (mittlerer Score 4,8 bzw. 5,5 Punkte), während der mittlere Score bei den nicht gegen Varizellen geimpften Kindern mit 8,1 Punkten gerade oberhalb der Grenze zwischen leichter und mäßig schwerer Erkrankung liegt. Als schwer eingestufte Verläufe kommen auch in dieser Gruppe, soweit aus einer Abbildung hervorgeht, nur selten vor.7

** Grenze des unteren Konfidenzintervalls mindestens 60%.
*** Definition nach einem Score, in den neben Zahl (1-8 Punkte [P]) und Aussehen (2-10 P) der Läsionen die Fieberhöhe (0-3 P), das Vorliegen einer interstitiellen Pneumonie (10 P) oder einer Enzephalitis (10 P) sowie die subjektive Einschätzung des Befindens durch den Studienarzt (0-5 P) eingehen; ≤ 7 Punkte milde, 8 bis 15 Punkte moderate, ab 16 Punkten schwere Erkrankung.7

Störwirkungen fallen unter der MMRV-Vakzine zum Teil häufiger auf: Nach der ersten Dosis werden vermehrt Fieberreaktionen beobachtet (57,4% vs. 44,5% bzw. 39,8% unter MMR-Impfstoff), ebenso Fieber über 39,5°C (12,9% vs. 7,3% bzw. 6,3%). Nach der zweiten Dosis treten Lokalreaktionen häufiger auf als unter monovalentem Windpocken- oder MMR-Impfstoff (z.B. Rötung 24,8% vs. 13,7% vs. 9,3%).7 Eine Häufung von Fieberkrämpfen unter dem Vierfachimpfstoff wird in der Studie nicht berichtet. Eine im Sommer dieses Jahres publizierte große kanadische Kohortenstudie8 bestätigt jedoch erneut ein erhöhtes Risiko für Fieberkrämpfe nach der ersten Dosis der MMRV-Vakzine gegenüber einer gleichzeitigen Anwendung von Varizella- und MMR-Impfstoff an verschiedenen Körperstellen.9,10 Die STIKO empfiehlt daher seit 2011, für die Erstimmunisierung die simultane getrennte Verabreichung zu bevorzugen.11

Kontrollierte Studien zum Einfluss der Windpockenimpfung auf spezifische schwere Komplikationen oder Todesfälle gibt es unseres Wissens weiterhin nicht. Anders als 2004 beschreiben aber inzwischen zumindest Korrelationsstudien einen signifikanten Rückgang Varizella-bedingter Krankenhausbehandlungen nach Einführung nationaler Impfprogramme in den USA, Kanada und Australien12-14 sowie nach einem Kongressabstract anscheinend auch bei unter Zehnjährigen in Deutschland.15 In den USA wird darüber hinaus auch eine verringerte Windpocken-Sterblichkeit beobachtet.16

Die WHO spricht sich in ihrem im Juni 2014 aktualisierten Positionspapier zur Varizellenimpfung weiterhin nicht uneingeschränkt für eine routinemäßige Immunisierung aller Kleinkinder aus und betont die deutlich niedrigere Belastung durch schwere Verläufe und Sterblichkeit im Vergleich zu anderen impfpräventablen Erkrankungen des Kindesalters wie Masern, Keuchhusten oder invasive Pneumokokkenerkrankungen.17

Länder, die die Einführung eines Impfprogramms in Erwägung ziehen, sollen demnach zunächst durch geeignete Überwachungsmaßnahmen die nationale Krankheitslast bestimmen und sicherstellen, dass auch nach der Einführung eine kontinuierliche Überwachung der Windpockenepidemiologie gewährleistet ist. Zudem sind geeignete Maßnahmen zu treffen, um langfristig hohe Impfraten von mindestens 80% zu erzielen, da sonst die Gefahr vermehrter Erkrankungen bei ungeimpften Jugendlichen und Erwachsenen besteht, die mit einer erhöhten Komplikationsrate einhergehen.17 Nach Modellrechnungen aus Großbritannien ist eine Altersverschiebung bei Impfquoten von 90% für die erste und 80% für die zweite Impfung unwahrscheinlich.18

In Deutschland wurde eine bundesweite Meldepflicht erst 2013 eingeführt. Die Bestimmung altersspezifischer Inzidenzen – und damit die Möglichkeit, eine Altersverschiebung zu erfassen – wird daher erst in Zukunft möglich sein.18 Um die Auswirkungen der Varizellenimpfung auf die Inzidenz von Herpes-zoster-Erkrankungen zu untersuchen, ist laut einer „Evaluation” der STIKO vom Januar 2013 „die Erschließung weiterer Datenquellen” nötig.18 Bislang vorliegende internationale Untersuchungen kommen diesbezüglich zu widersprüchlichen Ergebnissen.3,17

Die Impfraten sollen hierzulande zumindest bei der ersten Dosis die 80%-Grenze überschritten haben und bei 24 Monate alten Kindern, die 2009 geboren wurden, bei 87% liegen.19 Dabei ist aber von erheblichen regionalen Unterschieden auszugehen.20 Seit der Empfehlung, bei der ersten Dosis eine getrennte Anwendung von MMR- und Varizellenimpfstoff zu bevorzugen, wird zudem ein Rückgang der Impfquote beobachtet.19,21

Deutschland war 2004 das erste EU-Land, das eine generelle Windpockenimpfung eingeführt hat. Bis 2012 sind lediglich vier weitere Länder diesem Beispiel gefolgt – Griechenland, Lettland, Luxemburg und Zypern. Großbritannien und Frankreich haben sich explizit dagegen entschieden.22 Dort wird, wie in der Mehrzahl der EU-Staaten sowie der Schweiz, lediglich die Immunisierung empfänglicher Jugendlicher und/oder bestimmter Risikogruppen angeraten.22,23 Dass viele Länder einer allgemeinen Impfempfehlung zurückhaltend gegenüberstehen, dürfte auch an weiteren ungeklärten Fragen liegen. Hierzu gehören die Dauer der Immunität nach zwei Dosierungen, die Notwendigkeit und der Zeitpunkt weiterer Impfungen, das Risiko von Komplikationen bei Durchbruchserkrankungen im Erwachsenenalter Jahrzehnte nach der Immunisierung sowie die Entwicklung der Leihimmunität bei Säuglingen geimpfter Mütter bzw. ungeimpfter Mütter ohne Varizellenanamnese.19,22

Die Kosten der Varizellenimpfung sind erheblich: Für die zweimalige Impfung eines Jahrgangs gegen Masern, Mumps und Röteln sind 44,7 Mio. € bis 51,7 Mio. € aufzuwenden. Die zusätzliche zweimalige Immunisierung gegen Windpocken erhöht die Kosten auf das Zwei- bis Zweieinhalbfache (113,5 Mio. € bis 118,6 Mio. €).**** Die Impfstoffe von GlaxoSmithKline sind dabei durchweg teurer als die von Sanofi Pasteur MSD.

**** Berechnet auf der Basis der Listenpreise für Packungen mit 10 Fertigspritzen für den Jahrgang 2012 mit 673.544 Neugeborenen.

∎  Windpocken sind eine üblicherweise bei Kindern auftretende, in der Regel harmlos verlaufende Viruserkrankung. Schwere Komplikationen und Todesfälle werden deutlich seltener beobachtet als bei anderen impfpräventablen Erkrankungen des Kindesalters wie beispielsweise Masern.

∎  Die Impfung gegen Varizellen (VARILRIX, VARIVAX, in PRIORIX TETRA) senkt die Erkrankungszahlen deutlich. Korrelationsstudien zeigen zudem einen Rückgang von Krankenhausbehandlungen und – zumindest in den USA – von Todesfällen.

∎  Dass eine generelle Immunisierung aller Kleinkinder gegen Windpocken dennoch in den meisten europäischen Ländern nach wie vor nicht empfohlen wird, hängt mit einer Vielzahl ungeklärter Fragen zusammen, die sowohl die Vakzine selbst (z.B. Dauer der Immunität, Risiko von Komplikationen bei Durchbruchserkrankungen im Erwachsenenalter) als auch ihren Einfluss auf die Varizellenepidemiologie (z.B. Herpes-zoster-Erkrankungen, Leihimmunität bei Neugeborenen) betreffen.

∎  Die bereits vor zehn Jahren von der STIKO getroffene Entscheidung, die Varizellenimpfung in den Routineimpfkalender aufzunehmen, halten wir weiterhin für falsch. Sie hat aber dazu geführt, dass Eltern, die vor der Impfentscheidung stehen, von einer veränderten epidemiologischen Situation ausgehen müssen, da ein ungeimpftes Kind nicht mehr unbedingt im Kindesalter an Windpocken erkranken wird. Eine Lösung für dieses von der STIKO geschaffene Dilemma ist derzeit nicht in Sicht.

  (R = randomisierte Studie)
R  1 VARIS, T., VESIKARI, T.: J. Infect. Dis. 1996; 174 (Suppl. 3): S330-4
R  2 WEIBEL, R.E. et al.: N. Engl. J. Med. 1984; 310: 1409-15
3 WHO (SAGE Working Group): Background Paper on Varicella Vaccine; Treffen vom Apr. 2014; http://www.a-turl.de/?k=rahm
4 WHO: Systematic Review of available evidence on effectiveness and duration of protection of varicella vaccines, Stand Nov. 2013 http://www.a-turl.de/?k=arg
5 STIKO: Epid. Bull. 2009; Nr. 32: 328-36; http://www.a-turl.de/?k=udol
6 KUTER, B. et al.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2004; 23: 132-7
R  7 PRYMULA, R. et al.: Lancet 2014; 383: 1313-24
8 MacDONALD, S.E. et al.: CMAJ 2014; 186: 824-9
9 KOCH, J. et al.: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2011, Nr. 2 : 14-6 http://www.a-turl.de/?k=olde
10 Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2013; Nr. 1: 30 http://www.a-turl.de/?k=yllb
11 STIKO: Epid. Bull. 2011; Nr. 38: 352-3; http://www.a-turl.de/?k=lowa
12 LOPEZ, A.S. et al.: Pediatrics 2011; 127: 238-45
13 TAN, B. et al.: Pediatr. Infect. Dis. J. 2012; 31: 956-63
14 HEYWOOD, A.E. et al.: Bull. World Health Organ. 2014; 92: 593-604
15 SIEDLER, A., DETTMANN, M. : Hospitalization with varicella and shingles before and after introduction of generell childhood varicella vaccination in Germany, ESPID, Mai 2014; http://www.a-turl.de/?k=urbe
16 MARIN, M. et al.: Pediatrics 2011; 128: 214-20
17 WHO: Weekly epid. Rec. 2014; 89: 265-88; http://www.a-turl.de/?k=imsh
18 STIKO: Epid. Bull. 2013; Nr. 1: 1-5; http://www.a-turl.de/?k=bels
19 SIEDLER, A. et al.: Bundesgesundheitsbl. 2013; 56: 1313-20
20 REUSS, A.M. et al.: BMC Public Health 2010; 10: 502 (7 Seiten)
21 STRENG, A. et al.: Vaccine 2014; 32: 897-900
22 European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC): Varicella vaccine in the European Union; Apr. 2014; http://www.a-turl.de/?k=rixu
23 Bundesamt für Gesundheit: Schweizer Impfplan 2014 http://www.a-turl.de/?k=patz

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 12. Dezember 2014

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