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Korrespondenz

HYDROXIETHYLSTÄRKE BEI HÖRSTURZ?

Wie ist Ihres Erachtens der Einsatz von Infusionen mit Hydroxiethylstärke (HES; HAES STERIL u.a.) bei akuten Hörstürzen einzuschätzen, insbesondere unter Berücksichtigung der unter HES beschriebenen Risiken?

Dr. med. R. ARENDT (Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde)
D-32105 Bad Salzuflen
Interessenkonflikt: keiner

Für den Hörsturz, die akut einsetzende, meist einseitige Innenohrschwerhörigkeit unbekannter Genese, gibt es unseres Wissens nach wie vor keine aussagekräftigen Belege für eine wirksame Behandlung (vgl. a-t 1997; Nr. 8: 83-5).1-7 Unter der Vielzahl der Therapieansätze, die zum Teil seit Jahrzehnten versucht werden, ohne dass Nutzenbelege aus hinreichend großen, methodisch validen randomisierten kontrollierten Studien vorliegen, werden in den USA am ehesten Glukokortikoide empfohlen,8 während in Deutschland die Infusionstherapie mit Plasmaexpandern wie Hydroxiethylstärke (HES; HAES STERIL u.a.) dominiert.7

2007 wurde eine vergleichsweise große randomisierte doppelblinde Phase-II-Studie publiziert, in der die Behandlung mit niedermolekularer HES in drei verschiedenen Dosierungen (täglich 15 g bis 45 g in Kochsalzlösung intravenös an sechs aufeinanderfolgenden Tagen) mit Infusion von Glukoselösung als Plazebo bei insgesamt 210 Patienten mit erstmaligem einseitigen Hörsturz verglichen wird. Weder im primären (durchschnittlicher Hörgewinn nach sieben Tagen) noch in sekundären Endpunkten ergibt sich ein signifikanter Vorteil der HES-Therapie. In allen Gruppen hat sich das Gehör nach 90 Tagen bei etwa 50% bis 60% der Patienten vollständig erholt, bei weiteren 30% bis 40% teilweise oder befriedigend, bei 10% bis 17% ist der Zustand unverändert oder verschlechtert.9 Dies entspricht früheren Daten zur Spontanremission nach Hörsturz.10 Das Ergebnis bestätigt zudem eine ältere kleinere randomisierte Doppelblindstudie, in der HES plus Pentoxifyllin (TRENTAL, Generika) bei Hörsturz nicht besser wirkt als Kochsalzlösung.11 Laut post hoc konzipierten Subgruppenanalysen profitieren in der neueren Studie angeblich Patienten mit spätem Therapiebeginn und/oder Bluthochdruck von HES.9 Solche nachträglichen Auswertungen in Negativstudien sind ohne Beweiskraft. Dass in der S1-Leitlinie zum Hörsturz nur diese nachträglichen Analysen, nicht aber die entscheidenden negativen Ergebnisse angeführt werden,12 erachten wir als unwissenschaftlich und manipulativ.

Unter den Störwirkungen dominiert ein oft generalisierter langanhaltender, therapieresistenter Juckreiz, der die Lebensqualität der Patienten deutlich beeinträchtigt. Er wird auf Einlagerung von HES in kleinen Hautnerven zurückgeführt und tritt typischerweise um Wochen verzögert auf, weshalb der Zusammenhang mit der Infusion häufig verkannt und die tatsächliche Inzidenz unterschätzt sein dürften. In Studien, die die Störwirkung untersuchen, sind bis zu 60% der Patienten betroffen. Die Häufigkeit nimmt mit der Dosis zu.13,14 Nach einer aktuell publizierten retrospektiven Beobachtungsstudie mit 70 Patienten kann jedoch auch schon eine geringe Dosis (30 g) die Störwirkung auslösen. Bei 80% der Betroffenen in dieser Studie (mediane kumulative Dosis 300 g) ist der Juckreiz schwer oder sehr schwer. Bei der Hälfte dauert es mindestens sechs Monate, bis er verschwindet, bei einem Drittel hält er mindestens ein Jahr an.13 Es ist davon auszugehen, dass die Nierentoxizität von HES, für die als Pathomechanismus ebenfalls die Gewebseinlagerung der Stärke diskutiert wird,15 auch Patienten betreffen kann, die die Lösung wegen Hörsturz erhalten. In der öffentlich zugänglichen Spontanerfassungsdatenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind drei Verdachtsberichte über (akutes) Nierenversagen nach HES-Infusion wegen Hörsturz oder Tinnitus gelistet.16

HES-Produkte bleiben zwar voraussichtlich entgegen der ursprünglichen Empfehlung der EMA (a-t 2013; 44: 63) im Handel, sollen aber in Zukunft nur noch sehr eingeschränkt zugelassen sein (siehe Seite 113). Die Verwendung bei Hörsturz, die bislang durch die Indikation "kochleäre Durchblutungsstörungen"17 gedeckt war, dürfte dann off label sein, was im Schadensfall haftungsrechtliche Folgen für den verordnenden Arzt haben kann.

∎  Wir raten angesichts der fehlenden Nutzenbelege sowie der Risiken von der - demnächst wohl nicht mehr zugelassenen - Infusionstherapie mit HES bei Hörsturz ab. Patienten sollten über die mittelfristig meist befriedigende bis gute Prognose der Erkrankung und über den Mangel an Nutzennachweisen für die heute verfügbaren Therapieoptionen sowie ihre Risiken aufgeklärt werden.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
M  1 WEI, B.P.C. et al.: Steroids for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Apr. 2013; Zugriff Dez. 2013
M  2 AWAD, Z. et al.: Antivirals for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Juni 2012; Zugriff Dez. 2013
M 3 BENNETT, M.H. et al.: Hyperbaric oxygen for idiopathic sudden sensorineural hearing loss and tinnitus. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Mai 2012; Zugriff Dez. 2013
M  4 LABUS, J. et al.: Laryngoscope 2010; 120: 1863-71
M  5 AGARWAL, L. et al.: Vasodilators and vasoactive substances for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Sept. 2008; Zugriff Dez. 2013
M  6 GARAVELLO, W. et al.: Otol. Neurotol. 2012; 33: 724-9
7 SUCKFÜLL, M.: Dt. Ärztebl. Int. 2009; 106: 669-76
8 STACHLER, R.J. et al.: Otolaryngol. Head Neck Surg. 2012; 146 (Suppl. 1): S1-35
R  9 KLEMM, E. et al.: Otol. Neurotol. 2007; 28: 157-70
10 MATTOX, D.E. et al.: Ann. Otol. 1977; 86: 463-80
R  11 DESLOOVERE, C. et al.: HNO 1988; 36: 417-22
12 Deutsche Ges. f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie: S1-Leitlinie Hörsturz, Stand Juni 2010
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017-010l_S1_Hoersturz.pdf
13 STÄNDER, S. et al.: Acta Derm. Venereol., online publ. am 16. Sept. 2013 (6 Seiten)
14 BORK, K.: Br. J. Dermatol. 2005; 152: 3-12
15 MUTTER, T.C. et al.: Hydroxyethyl starch (HES) versus other fluid therapies: effects on kidney function. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Mai 2013; Zugriff Dez. 2013
16 BfArM: UAW-Datenbank, Zugriff Dez. 2013;
http://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/uawDB/_node.html
17 Fresenius Kabi: Fachinformation HAES-STERIL 6%, Stand Dez. 2010

© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 6. Dezember 2013

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