logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2012; 43: 84-6nächster Artikel
Korrespondenz

SCREENING AUF VITAMIN D?

In letzter Zeit bekomme ich gehäuft Anfragen nach Vitamin-D-Laboruntersuchungen, auch von jungen gesunden Patienten. Ist ein Screening sinnvoll?

Dr. med. H. SAUER (Fachärztin für Allgemeinmedizin)
D-20253 Hamburg
Interessenkonflikt: keiner

In westlichen Ländern ist es in den letzten Jahren zu einer eklatanten Zunahme von Tests auf Vitamin D gekommen.1-3 Auch in Deutschland haben sich die Untersuchungen zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherungen allein zwischen 2009 und 2011 nahezu verdoppelt. Die damit verbundenen Kosten stiegen von 11 Mio. € auf über 21 Mio. € pro Jahr.4 Hintergrund dürfte die derzeitige Karriere von Vitamin D als Wundermittel gegen eine breite Palette von Krankheiten sein (vgl. a-t 2010; 41: 127-9). Ein Nutzen außerhalb der klassischen skelettalen Indikationen ist aber nach wie vor nicht belegt.5,6 Es besteht zudem beträchtliche Unsicherheit und Uneinigkeit im Hinblick auf die Definition eines Vitamin-D-Mangels. In konservativen Leitlinien wird als Schwelle für einen Vitamin-D-Mangel ein 25-Hydroxy-Vitamin-D-Spiegel (25[OH]D) von 25 nmol/l (= 10 ng/ml) definiert.5 Bei Werten darunter steigt die Gefahr von Rachitis oder Osteomalazie, die aber auch dann nicht zwangsläufig auftreten müssen. Nach einer Hamburger Autopsiestudie an mehr als 600 Verstorbenen zwischen 20 und 100 Jahren finden sich bei einem Großteil derjenigen mit 25(OH)D-Spiegel unter 25 nmol/l keine pathologischen Mineralisationsstörungen.7 Möglicherweise kann eine ausreichende Kalziumzufuhr den Vitamin-D-Mangel kompensieren.8 Nach britischen Daten wurden bei Kindern mit Rachitis Werte unter 20 nmol/l, bei Erwachsenen mit Osteomalazie Spiegel unter 10 nmol/l gefunden.9 Dennoch gelten Konzentrationen unter 25 nmol/l auch in konservativen Leitlinien als substitutionsbedürftiger Mangel.5,10 In Laboren wird allerdings vielfach als unterer Referenzwert für 25(OH)D bereits ein Spiegel von 50 nmol/l (= 20 ng/ml) angegeben.11 Ob das Heraufsetzen der Schwelle für einen Vitamin-D-Mangel auf Werte oberhalb von 25 nmol/l einen klinischen Nutzen hat, ist jedoch nicht gesichert.5,12

Qualitativ hochwertige evidenzbasierte Leitlinien zur Frage, wann Tests auf Vitamin D angezeigt sind, finden wir nicht. Ein allgemeines Screening auf Vitamin D bei gesunden Personen ohne Hinweis oder Risikokonstellation für einen Mangelzustand wird aber, soweit wir sehen, nirgends befürwortet, sondern in mehreren Stellungnahmen ausdrücklich abgelehnt.6,12,13 Die internationale Endocrine Society empfiehlt ein Screening bei Risikogruppen, die allerdings entsprechend dem in dieser Leitlinie hoch angesetzten Schwellenwert für einen Mangelzustand (50 nmol/l) sehr weit gefasst werden.13 Dagegen ist nach einem im März publizierten Konsensusstatement des neuseeländischen Gesundheitsministeriums und der neuseeländischen Krebsgesellschaft12 die Untersuchung auf Vitamin D im Allgemeinen nur zur Abklärung des Verdachts auf Vitamin-D-Mangel angezeigt, so bei entsprechender klinischer Symptomatik wie unerklärte Knochenschmerzen oder ungewöhnliche Frakturen oder anderen Befunden wie unerklärter Anstieg der alkalischen Phosphatase oder niedrigen Kalzium- oder Phosphatspiegeln. Asymptomatische Risikogruppen für Vitamin-D-Mangel können nach Dafürhalten dieser Arbeitsgruppe unter Beachtung von Kontraindikationen und Vorsichtsmaßnahmen im Allgemeinen ohne Testung mit Vitamin-D-Supplementen behandelt werden.12

Als Risikogruppen für einen Vitamin-D-Mangel werden in verschiedenen aktuellen offiziellen Stellungnahmen neben den Kindern in den ersten Lebensjahren in erster Linie
∎  gebrechliche und in ihrer Mobilität eingeschränkte, an das Haus gebundene Menschen, insbesondere in Pflegeheimen,
∎  Menschen, die aus medizinischen (z.B. Hautkrebs) oder kulturellen Gründen (Vollverschleierung) Sonnenlicht vollständig meiden,
∎  und Menschen mit sehr dunkler Hautfarbe genannt.5,10,12,14

Als weitere Umstände für ein möglicherweise erhöhtes Risiko eines Vitamin-D-Mangels werden Malabsorptionssyndrome, Einnahme von mit Vitamin D interagierenden Arzneimitteln wie Phenytoin (PHENHYDAN, Generika), Schwangerschaft und Stillzeit oder Übergewicht angeführt.5,10,12,13 Diese Zuordnungen sind jedoch nicht alle unumstritten. So ist zwar erwiesen, dass für die Vitamin-D-Synthese in der Haut bei starker Pigmentierung mehr UV-Licht benötigt wird als bei heller Haut. Dunkelhäutige vollgestillte Säuglinge sind in der Tat besonders Rachitis-gefährdet. Laut Autoren des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM), die Ende 2010 einen umfangreichen Bericht zum Vitamin-D- und Kalziumbedarf herausgegeben haben, besteht jedoch bei Afroamerikanern die Besonderheit, dass sie zwar niedrigere Vitamin-D-Spiegel aufweisen als hellhäutige Amerikaner, aber auch niedrigere Osteoporose- und Frakturraten. Nach einer Beobachtungsstudie könnten höhere Vitamin-D-Spiegel bei ihnen dagegen eher mit unerwünschten Effekten einhergehen.6,15,16 Strittig ist auch die Frage, ob schwangere oder stillende Frauen ein erhöhtes Risiko eines Vitamin-D-Mangels haben. Nach Einschätzung der IOM-Autoren spricht die verfügbare Evidenz nicht dafür. Die bekanntermaßen geringen Vitamin-D-Spiegel in der Muttermilch lassen sich nach den bisherigen – auch randomisierten – Studien ohnehin nur anheben, wenn die Mütter exzessive Mengen von Vitamin D einnehmen (4.000 I.E. bis 6.000 I.E.), deren Sicherheit nicht gewährleistet ist. Eine Substitution des Neugeborenen über die stillende Mutter ist daher nicht ratsam. Auch für einen höheren Vitamin-D-Bedarf Übergewichtiger sehen die IOM-Autoren keine Evidenz.6

Nach deutschlandweiten Erhebungen des Robert Koch-Instituts finden sich bei 19% der Kinder und Jugendlichen (1 bis 17 Jahre) und bei 16% der Erwachsenen bis 79 Jahre 25(OH)D-Spiegel unter 25 nmol/l.17 Etwas höher ist dabei der Anteil mit Mangelzustand bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (zwischen 3 und 17 Jahren rund 30% versus 18% bei einheimischen).18 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Untersuchungen mit einem Immunassay durchgeführt wurden, der den Vitamin-D-Spiegel tendenziell unterschätzt.19,20 Ein besonders hoher Anteil mit niedrigen Spiegeln zeigt sich bei Pflegeheimbewohnern: Hier haben 68% Werte unter 25 nmol/l. Nach einer kleinen, nicht repräsentativen Untersuchung an vorwiegend gesunden Menschen zwischen 66 und 96 Jahren können allerdings auch Ältere im Sommer und bei regelmäßigem Aufenthalt im Freien genügend Vitamin D synthetisieren: Serumspiegel unter 25 nmol/l finden sich hier bei keinem der Teilnehmer.17

Die Sonnenexposition, die für eine ausreichende Bildung von Vitamin D in der Haut gebraucht wird, ist typischerweise kurz und kürzer als die Zeit bis zur Hautrötung oder zum Sonnenbrand. Auch in unseren Breitengraden genügen üblicherweise regelmäßige kurzdauernde Betätigungen im Freien um die Mitte des Tages im Sommer, die den üblichen Alltagsaktivitäten wie Schulweg oder Weg zum Einkaufen entsprechen, um einem Mangel im Winter vorzubeugen. Sonnenbaden ist dafür nicht erforderlich, da eine längere Exposition zu keiner weiteren Synthese führt.5,21 Mit der Nahrung werden hierzulande nur etwa 10% bis 30% des Bedarfs gedeckt.17

Durch die Zulassung ist das Vorgehen, Risikogruppen empirisch zu behandeln, gedeckt: Vitamin-D-Präparate sind in Deutschland für die Vorbeugung eines Mangelzustands bei erkennbarem Risiko zugelassen. Die in den Fachinformationen für die Prophylaxe empfohlenen Tagesdosierungen bei Erwachsenen liegen, sofern keine Malabsorptionsstörung besteht, zwischen 400 I.E. und 700 I.E.22-24 Dies entspricht etwa dem vom IOM berechneten täglichen Bedarf für Menschen mit minimaler Sonnenexposition.8 Der Kenntnisstand aus Endpunktstudien ist jedoch enttäuschend: Vitamin D allein hat bei gemeinsamer Auswertung der vorliegenden Studien mit älteren Erwachsenen keinen positiven Effekt auf Frakturen und in hohen jährlichen Einmaldosierungen sogar einen negativen. Der günstige Einfluss von Vitamin D plus Kalzium auf das Frakturrisiko ist praktisch ausschließlich bei im Heim lebenden älteren Frauen erkennbar.25 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die hier in Rede stehenden Risikogruppen in den Studien wahrscheinlich unzureichend repräsentiert sind. Soweit Daten vorliegen, hatten die Teilnehmer auch in den Studien, die in Alten- und Pflegeheimen durchgeführt wurden, überwiegend ausreichende Vitamin-D-Spiegel (25[OH]D oberhalb von 25 mmol/ml).25 Auch im Hinblick auf die Sturzprävention sind die Daten zu Vitamin D mit oder ohne Kalzium inkonsistent.8

Beim derzeitigen Kenntnisstand scheint uns folgendes Vorgehen sinnvoll: Bei gesunden Menschen ohne Hinweis oder Risikokonstellation für einen Vitamin-D-Mangel ist von einem Screening auf Vitamin D strikt abzuraten. Die Untersuchung hat andererseits ihre klare Indikation für die Abklärung oder den Ausschluss bei bestehendem Verdacht auf Vitamin-D-Mangel. Bei Risikogruppen scheint es uns angebracht, individuell und unter Einschätzung insbesondere der Sonnenexposition zu entscheiden, ob ohne Test substituiert wird oder nicht, oder ob im Zweifelsfall ein Test durchgeführt wird. Ausnahmen hiervor sind die Kinder in den ersten 12 bis 18 Lebensmonaten, bei denen die routinemäßige Vitamin-D-Supplementierung seit langem Standard ist. Bei allen Risikogruppen für einen Vitamin-D-Mangel ist außerdem für ausreichende Kalziumzufuhr zu sorgen. Die für die Prophylaxe zugelassenen Dosierungen von Vitamin D gelten im Allgemeinen und bei Beachtung der Kontraindikationen als sicher. Während einer Langzeitprophylaxe sollen aber Kalziumspiegel im Serum und Urin und Nierenfunktion regelmäßig überwacht werden, insbesondere bei Älteren und bei Komedikation mit Diuretika oder Herzglykosiden.22-24

∎  Von einem Screening auf Vitamin D bei gesunden Menschen ohne Hinweis oder Risikofaktoren für einen Vitamin-D-Mangel ist abzuraten.

∎  Tests auf Vitamin D haben andererseits eine klare Indikation zur Abklärung eines bestehenden Verdachts auf einen Mangelzustand, zum Beispiel bei klinischen Symptomen oder Befunden wie unerklärte niedrige Kalzium- oder Phosphatspiegel.

∎  Bei Risikogruppen für einen Vitamin-D-Mangel sollte individuell und insbesondere unter Einschätzung der Sonnenexposition entschieden werden, ob ohne Test substituiert wird oder nicht, oder ob im Zweifelsfall ein Test durchgeführt wird.

∎  Zu diesen Risikogruppen gehören in erster Linie gebrechliche und in ihrer Mobilität eingeschränkte, an das Haus gebundene Menschen, insbesondere in Pflegeheimen, sowie Menschen, die aus medizinischen (z.B. Hautkrebs) oder kulturellen Gründen (Vollverschleierung) Sonnenlicht vollständig meiden.

∎  Bei Kindern in den ersten 12 bis 18 Lebensmonaten ist eine routinemäßige Supplementierung von Vitamin D (VIGANTOLETTEN u.a.) seit langem Standard.

1 SATTAR, N. et al.: Lancet 2012; 379: 95-6
2 GREY, A. et al.: Lancet 2012; 379: 1699
3 BILINSKI, K., BOYAGES, S.: BMJ 2012; 345: e4743 (2 Seiten)
4 STALLAUKE, M. (Wiss. Institut der AOK): Schreiben vom 2. Aug. 2012
5 British Association of Dermatologists et al.: Consensus Vitamin D position statement, Dez. 2010; http://info.cancerresearchuk.org/prod_consump/ groups/cr_common/@nre/@sun/documents/generalcontent/cr_052628.pdf
6 ROSEN, C.J. et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2012; 97: 1146-52
7 PRIEMEL, M. et al.: J. Bone Miner. Res. 2010; 25: 305-12
8 Institute of Medicine: Dietary Reference Intakes for Calcium and Vitamin D, 2010
9 Scientific Advisory Committee on Nutrition (UK): Update on vitamin D, 2007; http://www.sacn.gov.uk/pdfs/sacn_position_vitamin_d_2007_05_07.pdf
10 National Prescribing Service Limited (Australien): News 72, März 2011 http://www.nps.org.au/__data/assets/pdf_file/0020/122447/News72_vitamin_D_0411.pdf
11 http://www.labor-limbach.de/Leistungsverzeichnis.leistungsverzeichnis.0.html?&no_cache=1&tx_laboratoryeditor_pi1[s_uid]=1171
12 Ministry of Health, Cancer Society (Neuseeland): Consensus Statement on Vitamin D and Sun Exposure in New Zealand, März 2012 http://www.health.govt.nz/publication/consensus-statement-vitamin-d-and-sun-exposure-new-zealand/td>
13 HOLICK, M.F. et al.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2011; 96: 1911-30
14 Robert Koch-Institut: Antworten des Robert Koch-Instituts auf häufig gestellte Fragen zu Vitamin D, ohne Datum; http://www.rki.de/Shared Docs/FAQ/vitamind3/vitamind3.html?nn=2408450#FAQId2437588
15 ALOIA, J.F.: J. Clin. Endocrinol. Metab. 2011; 96: 2987-96
16 CAULEY, J.A. et al.: J. Bone Miner. Res. 2011; 26: 2378-88
17 Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Vitamin D und Prävention ausgewählter chronischer Krankheiten, 2011 http://www.dge.de/pdf/ws/DGE-Stellungnahme-VitD-111220.pdf
18 HINTZPETER, B. et al.: J. Nutr. 2008; 138: 1482-90
19 ROTH, H.J.: Ann. Clin. Biochem. 2008; 45: 153-9
20 SNELLMAN, G. et al.: PloS One 2010; 5: e11555 (7 Seiten)
21 National Radiological Protection Board (Großbritannien): Health Effects from Ultraviolet Radation, 2002; 13 http://www.hpa.org.uk/webc/HPAwebFile/HPAweb_C/1194947340456
22 Merck: Fachinformation VIGANTOLETTEN 500 I.E./1.000 I.E., Stand März 2012
23 Merck: Fachinformation VIGANTOL Öl, Stand Sept. 2010
24 Mibe Arzneimittel: Fachinformation DEKRISTOL 400 I.E., Stand Juni 2012
25 AVENELL, A. et al.: Vitamin D and Vitamin D analogues for preventing fractures associated with involutional and post-menopausal osteoporosis. Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Feb. 2008; Zugriff Okt. 2012

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 12. Oktober 2012

Autor: angegebene Leser bzw. Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 2012; 43: 84-6nächster Artikel