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Therapiekritik

UNKOMPLIZIERTE APPENDIZITIS: ANTIBIOTIKA STATT OPERATION?

Appendektomie ist die Methode der Wahl bei akuter Appendizitis. Der Eingriff gilt als risikoarme Routine. Akute Komplikationen wie Wundinfektionen und intraabdominelle Abszesse müssen jedoch einkalkuliert werden. Nach Daten aus einer schwedischen Kohortenstudie mit 117.000 Patienten besteht zudem innerhalb von 30 Tagen postoperativ eine Exzessmortalität um das 7,1-Fache (287 beobachtete versus 41 „erwartete” Todesfälle bei 117.424 Operationen; 2,4 Todesfälle je 1.000 Operationen).1 Diese höhere Mortalität ist nicht durch die Schwere der Appendizitis zu erklären: Die Mortalität steigt in der Subgruppe der Patienten mit unspezifischem Bauchschmerz („nonsurgical pain”) sogar um das 9-Fache.1 Auch bei Durchführung präoperativer CT-Untersuchungen lässt sich bei immerhin 10% bis 20% aller Appendektomien histologisch keine Appendizitis nachweisen.2 Langfristige Folgen können auch Adhäsionen sein, die bei 1,3% der Operierten innerhalb von 30 Jahren zu einem Dünndarmileus führen (nichtoperierte Kontrollen: 0,2%).3

Ob eine alleinige Therapie mit Antibiotika, z.B. mit einem Cephalosporin plus Metronidazol (METRONIDAZOL FRESENIUS u.a.; je nach Zustand intravenös oder per os), bei akuter unkomplizierter Appendizitis – analog der konservativen Behandlung z.B. bei Divertikulitis – als Alternative mit geringeren Störwirkungen infrage kommt, wurde in den letzten Jahren auch in randomisierten kontrollierten Studien geprüft. Das Interesse an der Frage ist groß: Trotz der überschaubaren Studienmenge erschienen seit 2010 mindestens sechs systematische Übersichten2,4-8 zum Thema, darunter ein Cochrane Review,7 in dem die Datenlage als „nicht beweiskräftig” bezeichnet wird, eine „Nichtunterlegenheit” der antibiotischen Behandlung gegenüber Operation jedoch nicht ausgeschlossen wird.

Die aktuellste, methodisch gute systematische Übersicht8 schließt vier randomisierte kontrollierte Studien9-12 mit 900 Patienten ein. Sie gibt den derzeitigen Kenntnisstand am besten wieder: Zwei in anderen Metaanalysen berücksichtigte Studien, von denen eine13 von den Autoren aus dubiosen Gründen zurückgezogen wurde und die andere offensichtlich nicht randomisiert ist,14 wurden ausgeschlossen. Endpunkte sind Komplikationsrate (primärer Endpunkt), Dauer des Krankenhausaufenthaltes, Wiedereinweisungen wegen Appendizitis und Erfolg der Intervention (sekundäre Endpunkte), wobei „Therapieerfolg” wegen der schwer vergleichbaren Verfahren unterschiedlich definiert wird.*

Die Komplikationsrate ist unter Antibiotikabehandlung niedriger als bei Operation (Relatives Risiko 0,69; 95% Konfidenzintervall 0,54-0,89). Komplizierte Verläufe (z.B. mit Phlegmone oder Peritonitis) kommen in beiden Gruppen gleich häufig vor. 21% der Patienten in der Antibiotikagruppe werden unter anderem wegen ausbleibender Besserung oder Umentscheidung der Studienärzte schließlich doch operiert. Jeder fünfte der zunächst erfolgreich mit Antibiotika behandelten Patienten wird im Verlauf eines Jahres erneut mit Appendizitis eingewiesen und dann zumeist operiert. 63% der Patienten in der Antibiotikagruppe gelten nach einem Jahr ohne Rezidiv oder Operation als „erfolgreich” behandelt. In der Operationsgruppe lag bei 92% tatsächlich eine Appendizitis als Ursache der Beschwerden vor. Die Dauer des Krankenhausaufenthaltes unterscheidet sich in beiden Gruppen nicht. Spätfolgen der Operation, z.B. durch Adhäsionen, sind bei kurzer Nachverfolgung nicht geprüft. Aussagen zur Mortalität sind aufgrund der viel zu geringen Patientenzahl nicht möglich. Die Ergebnisse ändern sich auch nach Ausschluss der Daten einer der Studien9 mit sehr hohem „Crossover” von der Antibiotika- in die Operationsgruppe nicht wesentlich. Liegen nach bildgebenden Verfahren Kotsteine vor, ist das Risiko für komplizierte Verläufe allerdings erhöht, sodass die Autoren in dieser Situation von einem konservativen Vorgehen abraten.8 Prädiktoren für ein erfolgreiches konservatives Vorgehen werden hingegen nicht benannt.

Folgt man den Ergebnissen, könnten fast zwei Drittel der Erkrankten konservativ behandelt werden, ohne dass die Rate bedrohlicher Krankheitsverläufe wie Perforationen zunimmt, bei insgesamt geringerer Komplikationsrate. Dennoch kann unseres Erachtens eine allgemeine Empfehlung nicht abgeleitet werden. Auch wenn die Metaanalyse selbst methodisch gut durchgeführt wurde, leidet sie dennoch an der mangelnden Qualität der eingeschlossenen Studien: In den offen durchgeführten Arbeiten werden die Endpunkte nicht verblindet erhoben. Die Randomisierung erfolgt in einer der Untersuchungen9 in Abhängigkeit vom Geburtsdatum, was zu erheblicher Verzerrung der Ergebnisse führen kann. In zwei Studien scheidet eine große Zahl von Patienten vorzeitig aus.9,11 Bei einer Arbeit handelt es sich zudem um eine kleine Einzentrumsstudie mit nur 60 Teilnehmern.12 Und schließlich lässt sich bei der geringen Zahl der Studien nicht abschätzen, ob unveröffentlichte Daten existieren (publication bias).

∎  Nach einer aktuellen Metaanalyse ist bei unkomplizierter Appendizitis eine alleinige antibiotische Behandlung bei 63% der Behandelten erfolgreich und führt zu einer Verringerung von Komplikationen, vor allem Wundinfektionen.

∎  Die Qualität der eingeschlossenen Studien ist für eine Empfehlung zu dürftig. Der Frage sollte jedoch in einer methodisch einwandfreien, ausreichend gepowerten Studie nachgegangen werden.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 BLOMQVIST, P.G. et al.: Ann. Surg. 2001; 233: 455-60
2 FITZMAURICE, G.J. et al.: Can. J. Surg. 2011; 54: 307-14
3 ANDERSSON, R.E.B.: Br. J. Surg. 2001; 88: 1387-91
M  4 ANSALONI, L. et al.: Dig. Surg. 2011; 28: 210-21
M  5 SIMILLIS, C. et al.: Surgery 2010; 147: 818-29
M  6 SVENSSON, J.F. et al.: Eur. J. Pediatr. Surg. 2012; 22: 185-94
M  7 WILMS, I.M.H.A. et al.: Appendectomy versus antibiotic treatment for acute appendicitis. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Okt. 2011; Zugriff Sept. 2012
M  8 VARADHAN, K.K. et al.: BMJ 2012; 344: e2156 (15 Seiten)
R  9 HANSSON, J. et al.: Br. J. Surg 2009; 96: 473-81
R  10 VONS, C. et al.: Lancet 2011; 377: 1573-9
R  11 STYRUD, J. et al.: World J. Surg. 2006; 30: 1033-7
R  12 ERIKSSON, S. GRANSTRÖM, L.: Br. J. Surg. 1995; 82: 166-9
R  13 MALIK, A.A. et al.: J. Gastrointest. Surg. 2009; 13: 966-70
14 TURHAN, A.N. et al.: Ulus. Travma Acil Cerrahi Derg. 2009; 15: 459-62

* Definition für „treatment efficacy” – Antibiotika: erfolgreiche Behandlung ausschließlich mit Antibiotika ohne Rezidiv, Operationsnotwendigkeit oder Komplikationen. Operation: erfolgreiche Operation mit histologisch nachgewiesener Appendizitis, keine postoperativen Komplikationen.

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 14. September 2012

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