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Therapiekritik

HTA-SADD: KEIN NUTZEN VON ANTIDEPRESSIVA BEI DEPRESSION DEMENZKRANKER

Antidepressiva werden bei Demenz häufig verordnet. Nach einer Querschnittserhebung in Berliner Pflegeheimen erhalten 30% der demenzkranken Bewohner ein Antidepressivum. Auch Depression ist bei Demenz häufig. In der Berliner Studie findet sich eine Prävalenz von fast 50%,1 nach anderen Daten von mehr als 20%.2 Ein Nutzen von Antidepressiva in dieser Indikation ist bisher jedoch nicht hinreichend belegt. Nach einer aktuellen systematischen Übersicht von 7 randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt 330 Patienten verdoppeln Antidepressiva gegenüber Plazebo Ansprech- und Remissionsraten. Die Effekte sind jedoch nicht signifikant. Zwischen den Studienergebnissen besteht zudem eine deutliche Heterogenität. Die Autoren bewerten die Evidenz als unzureichend und sehen Bedarf für größere Studien.3 Eine 15 Jahre alte Untersuchung4 mit 511 depressiven Demenzpatienten, die weder in der aktuellen Metaanalyse noch in der Nutzenauswertung einer etwas älteren Cochrane-Übersicht5 berücksichtigt wird, ist wenig aussagekräftig und vertrauenswürdig. Der angebliche Nutzen des MAO-A-Hemmer-Antidepressivums Moclobemid (AURORIX, Generika) beruht offensichtlich nicht auf Intention-to-treat-Daten, was in der Publikation aber vernebelt wird.

Mit der HTA-SADD*-Studie wird jetzt erstmals eine valide durchgeführte größere Studie zu der Fragestellung publiziert. 326 im Mittel 80 Jahre alte Patienten mit Demenz wahrscheinlich oder möglicherweise vom ALZHEIMER-Typ und mit einer mindestens vier Wochen lang gleichzeitig bestehenden Depression nehmen daran teil. Der Punktwert auf der eigens für Depression bei Demenz entwickelten und validierten CORNELL-Skala (CSDD**) muss mindestens 8 betragen und liegt im Mittel bei 13. Die dreiarmige, mit öffentlichen Geldern finanzierte Studie wird pragmatisch durchgeführt und sieht nur wenige Ausschlusskriterien vor, darunter im Wesentlichen absolute Kontraindikationen für die Studienmedikation und eine für die Randomisierung zu kritische Erkrankung (z.B. wegen Suizidrisikos). Die Patienten werden randomisiert und doppelblind einer Therapie mit einem von zwei der am häufigsten verordneten Antidepressiva, Sertralin (ZOLOFT, Generika; Zieldosis 150 mg/Tag; erzielt im Mittel 95 mg/Tag) oder Mirtazapin (REMERGIL, Generika; Zieldosis 45 mg/Tag; erzielt im Mittel 30 mg/Tag), oder Plazebo zugeteilt. Primärer Endpunkt ist die Besserung der Depression gemessen am CSDD-Score nach 13 Wochen, sekundär nach 39 Wochen. Sekundär werden außerdem weitere Parameter zu Lebensqualität, Kognition oder unerwünschten Effekten erhoben.2

* HTA-SADD = Health Technology Assessment Study of the Use of Antidepressants for Depression in Dementia
** CSDD = CORNELL Scale for Depression in Dementia; Skala mit insgesamt 19 Fragen in 5 Bereichen, max. 38 Punkte

Die Schwere der Depression nimmt in den ersten 13 Wochen in allen drei Gruppen ab, am stärksten unter Plazebo ( 5,6 Punkte), verglichen mit 5,0 Punkten unter Mirtazapin und 3,9 Punkten unter Sertralin. Die Besserung hält auch nach 39 Wochen ohne signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen an (Differenz vom Ausgangswert 4,8; 5,0 bzw. 4,0). Auch im Hinblick auf Lebensqualität oder Kognition oder in Subgruppenanalysen nach Schwere der Depression ergeben sich keine signifikanten Vorteile der Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo. Unerwünschte Effekte sind aber mit 41% unter Mirtazapin und 43% unter Sertralin im Vergleich zu Plazebo (26%) signifikant und relevant häufiger. Dabei stehen unter Mirtazapin psychische Störungen, vor allem Benommenheit und Sedierung, unter Sertralin Magen-Darm-Beschwerden, vor allem Übelkeit, im Vordergrund. Auch schwere unerwünschte Ereignisse nehmen unter den Antidepressiva signifikant zu. Die Sterblichkeit unterscheidet sich nicht.2

Die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Depression Demenzkranker bedarf weiterer Forschung, besonders auch bei schweren Formen. Nicht auszuschließen ist, dass Antidepressiva wie in der Allgemeinbevölkerung auch im Rahmen einer Demenz eher bei schwerer Depression einen Nutzen haben (vgl. a-t 2008; 39: 28). Beim derzeitigen Kenntnisstand sehen wir jedoch keine gesicherte Indikation für Antidepressiva bei Demenzkranken. Vorrang haben nichtmedikamentöse psychosoziale Interventionen, die auch die pflegenden Angehörigen einbeziehen und für die es Nutzenhinweise aus kontrollierten Studien gibt.6

∎  Daten zum Nutzen von Antidepressiva bei Demenz waren bisher widersprüchlich und insgesamt unzureichend.

∎  Die aktuell publizierte bislang größte valide Studie zu Antidepressiva bei Depression Demenzkranker, die HTA-SADD-Studie, findet keinen Nutzen von Mirtazapin (REMERGIL, Generika) oder Sertralin (ZOLOFT, Generika), aber mehr unerwünschte Effekte als Plazebo.

∎  Beim derzeitigen Kenntnisstand sehen wir keine gesicherte Indikation für Antidepressiva bei Demenzkranken.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 MAJIC, T. et al.: Dt. Ärztebl. 2010; 107: 320-7
R  2 BANERJEE, S. et al.: Lancet 2011; 378: 403-11
M  3 NELSON, J.C., DEVANAND, D.P.: J. Am. Geriatr. Soc. 2011; 59: 577-85
R  4 ROTH, M. et al.: Brit. J. Psychiatry 1996; 168: 149-57
M  5 BAINS, J. et al.: Antidepressants for treating depression in dementia. The Cochrane Database of Systematic Reviews, Stand Aug. 2005; Zugriff Aug. 2011
6 BRODATY, H.: Lancet 2011; 378: 375-6

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 19. August 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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