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ZWEIFEL AN DEN DATEN ZU OSELTAMIVIR (TAMIFLU)

Weltweit haben Regierungen den Neuraminidasehemmer Oseltamivir (TAMIFLU) einlagern lassen, der im Falle einer Grippe-Pandemie Sekundärkomplikationen der Influenza und Hospitalisierungen verringern soll. Als wissenschaftliche Basis für diese Annahmen wird vor allem eine gepoolte Auswertung von zehn randomisierten Studien herangezogen, deren Autoren mit Ausnahme des Erstautors KAISER Angestellte oder bezahlte Berater des Oseltamivir-Anbieters Roche sind und nach der der Neuraminidasehemmer mit Antibiotika behandelte Komplikationen der unteren Atemwege um 55% und Hospitalisierungen um 59% reduziert (1). Auch ein 2006 publiziertes Cochrane-Review hatte Oseltamivir bei ansonsten gesunden Erwachsenen einen positiven Einfluss auf Grippekomplikationen bescheinigt und sich dabei auf die KAISER-Analyse gestützt (2). Dies wurde in einem Kommentar kritisiert, da acht der zehn eingeschlossenen Studien nicht vollständig veröffentlicht sind, diese jedoch entscheidend zu dem errechneten Nutzen beitragen (3). Bei kritischer Überprüfung der Daten stellt die Cochrane-Gruppe fest, dass durch das von KAISER gewählte statistische Verfahren ein systematischer Fehler entstanden ist. Sie bemühen sich daher für eine eigene Analyse um die individuellen Patientendaten, die sie jedoch nicht erhalten. Im aktuellen Update des Cochrane-Reviews findet die KAISER-Analyse daher keine Berücksichtigung. Ein signifikanter Einfluss auf Influenzakomplikationen lässt sich für Oseltamivir nun nicht mehr nachweisen (Risk Ratio 0,55; 95% Konfidenzintervall 0,22-1,35) (4).

Die Bemühungen der Cochrane-Arbeitsgruppe, die vom British Medical Journal und dem britischen Fernsehsender Channel 4 unterstützt werden, bringen allerdings einige Ungereimtheiten zutage: Die angeschriebenen Autoren der beiden vollständig publizierten Studien wie auch der Abstracts und der KAISER-Analyse selbst geben an, sofern sie überhaupt antworten, die Rohdaten nicht zu haben und verweisen auf Roche. Der Erstautor des Abstracts der mit Abstand größten Studie erklärt sogar, überhaupt nicht in die Studie involviert gewesen zu sein (5,6). Beim Vergleich der Namen, die in den Publikationen genannt werden, mit denen auf Unterlagen für Behörden fallen ebenfalls Widersprüche auf. Zudem melden sich ehemalige Mitarbeiter einer Agentur für medizinische Kommunikation und geben an, als "Ghostwriter" unter anderem das Manuskript einer der beiden vollständig publizierten Oseltamivir-Studien (7) geschrieben zu haben. Sie sollen direkten Kontakt mit der Marketingabteilung von Roche gehabt haben, von der sie eine Reihe von Schlüsselbotschaften erhielten, die im Text vorkommen mussten, beispielsweise zum großen Gesundheitsproblem Influenza und dass Oseltamivir die Antwort darauf sei (6).

Auffällig ist auch, dass der Anteil der randomisierten Patienten, bei denen im Verlauf tatsächlich eine Influenza diagnostiziert wird, in allen Studien mit 46% bis 74% (im Mittel 68%) erstaunlich hoch ist. Da der Anteil der positiv getesteten Proben selbst bei hoher Influenzaaktivität üblicherweise nur bei 25% bis 35% liegt, besteht der Verdacht, dass die Einschlusskriterien strenger waren als in den Publikationen angegeben (8).

Um die Behauptung eines Vorteils von Oseltamivir zu stützen, überlässt Roche der Cochrane-Gruppe neun Beobachtungsstudien als Beleg des tatsächlichen ("real world") Effekts. Das BMJ bittet zwei Statistiker um eine Bewertung. Ihr Fazit: Von einem realistischen Szenario könne nicht die Rede sein, da auch bei diesen Untersuchungen strenge Einschlusskriterien bestanden. Trotz teilweise beträchtlicher methodischer Mängel ließen die Studien die Schlussfolgerung zu, dass Oseltamivir Sekundärkomplikationen einer Influenza bei ansonsten gesunden Erwachsenen reduzieren k ö n n t e . Der absolute Nutzen für die Anwender sei jedoch sehr klein und klinisch vermutlich ohne Bedeutung (9).

Die beiden Statistiker kritisieren, dass trotz breiter Anwendung des Neuraminidasehemmers nur in einer der überlassenen epidemiologischen Studien explizit dessen Sicherheit untersucht wird. Fragen tauchen zudem auch bei den Daten zu potenziellen Störwirkungen von Oseltamivir auf: Während die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zwischen 1999 und 2007 insgesamt 1.805 Verdachtsberichte aus aller Welt zu unerwünschten Effekten dokumentiert, finden sich in der Datenbank von Roche allein zu neuropsychiatrischen Störwirkungen im gleichen Zeitraum 2.466 Berichte, von denen 562 (23%) als schwerwiegend eingestuft werden (8). Offenbar werden außerhalb der USA beobachtete Schadeffekte nicht immer an die FDA weitergegeben (4). Aus den FDA-Daten geht hervor, dass bei unter 20-Jährigen neuropsychiatrische Effekte wie Verhaltensauffälligkeiten oder Halluzinationen häufiger berichtet werden als aus der klinischen Erprobung bekannte Störwirkungen wie Durchfall, Übelkeit oder Erbrechen, nicht jedoch bei älteren Anwendern. Nach Schätzungen aus Japan könnten 3% der Kinder unter Oseltamivir Verhaltensauffälligkeiten entwickeln. Wenn dem so ist, bleibt die Frage, warum diese Störwirkung in Zulassungsstudien nicht aufgefallen ist (10).

Roche betont, die Studienberichte der in der KAISER-Analyse ausgewerteten Studien den Zulassungsbehörden überlassen zu haben. Diese bewerten den Nutzen von Oseltamivir jedoch sehr unterschiedlich: In Europa wird dem Neuraminidasehemmer zumindest bei ansonsten gesunden Erwachsenen, um die es in dem Cochrane-Review und der Auseinandersetzung mit Roche in erster Linie geht, eine Verringerung von Sekundärerkrankungen der unteren Atemwege, die mit Antibiotika behandelt werden, zugestanden (11). In der US-amerikanischen Produktinformation wird dagegen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht belegt ist, dass Oseltamivir bakterielle Komplikationen einer Influenza verhindert (12). Auch die Informationspolitik des Herstellers richtet sich offenbar nach dem Land, für das die Botschaften bestimmt sind: Auf der globalen Webseite von Roche wird der Nutzen hinsichtlich einer Reduktion Antibiotika-pflichtiger Atemwegsinfekte und Hospitalisierungen unter Verweis auf die KAISER-Analyse hervorgehoben (13). Auf einer "ausschließlich für US-amerikanische Besucher" bestimmten Internetseite heißt es dagegen, dass nicht nachgewiesen sei, dass der Neuraminidasehemmer einen positiven Einfluss auf chronische oder akute respiratorische Erkrankungen einschließlich Pneumonien, Hospitalisierungen oder Influenza-assoziierte Todesfälle hat (14). Im Hinblick auf Risikopatienten, also Personen mit chronischen respiratorischen und/oder kardialen Vorerkrankungen sind sich die Zulassungsbehörden dagegen offenbar einig: Für diese ist ein Nutzen von Oseltamivir bei Sekundärkomplikationen der Influenza nicht nachgewiesen (11,12). Dies gilt übrigens auch für Immunsupprimierte (12).

Gesundheitsbehörden mit Beratungsfunktion für Patienten und Fachkreise schätzen den Nutzen von Oseltamivir da deutlich positiver ein: So behauptet das Robert Koch-Institut seit Jahren unverdrossen, dass Neuraminidasehemmer "einen statistisch signifikanten Schutz vor Hospitalisierung und tödlichem Verlauf" gewähren (15), obwohl die auf Anfrage als Beleg angeführten Quellen mehr als dürftig sind (a-t 2006; 37: 51). Auch die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) attestieren, anders als die FDA, Oseltamivir einen Einfluss auf Grippekomplikationen und berufen sich dabei auf die KAISER-Analyse (16).

Die Datenlage zu Oseltamivir (TAMIFLU) erweist sich als Desaster. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA sieht keine Belege für einen Schutz vor Grippekomplikationen durch Oseltamivir - weder für Gesunde noch für chronisch Kranke. Wieder einmal bestätigt sich, dass auf Daten, die von Firmen zurückgehalten werden, kein Verlass ist. Wie bei den Impfstoffen gegen Schweinegrippe wird deutlich, dass an Bestellung und Einlagerung von Arzneimitteln, die der öffentlichen Gesundheit dienen sollen, besondere Maßstäbe an die Absicherung von Nutzen und Schaden anzulegen sind. Hersteller und Behörden stehen in der Pflicht, die Nutzenbelege offenzulegen und die Öffentlichkeit nicht mit Expertenmeinungen abzuspeisen.

 1KAISER, L. et al.: Arch. Intern. Med. 2003; 163: 1667-72
 2JEFFERSON, T. et al.: Neuraminidase inhibitors for preventing and treating influenza in healthy adults. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 4; Stand Mai 2008
 3HAYASHI, K., in JEFFERSON, T. et al.: BMJ 2009; 339: b5106
 4JEFFERSON, T. et al.: BMJ 2009; 339: b5106
 5GODLEE, F., CLARKE, M.: BMJ 2009; 339: b5351
 6COHEN, D.: BMJ 2009; 339: b5387
 7NICHOLSON, K.G. et al.: Lancet 2000; 355: 1845-50
 8DOSHI, P.: BMJ 2009; 339: b5164
 9FREEMANTLE, N., CALVERT, M.: BMJ 2009; 339: b5248
10JEFFERSON, T. et al.: Lancet 2009; 374: 1312-3
11Emea: Europ. Produktinformation TAMIFLU, Stand 23. Okt. 2009, zu finden unter http://www.emea.europa.eu/humandocs/Humans/EPAR/tamiflu/tamiflu.htm
12Roche: US-am. Produktinformation TAMIFLU, Stand Aug. 2008
13Roche: TAMIFLU Media Briefing; 7. Sept. 2009, zu finden unter http://www.roche.com
14Roche: http://www.tamiflu.com/hcp/influenza/impact.aspx
15RKI: Merkblätter für Ärzte - Influenza, Stand Nov. 2006
16Centers for Disease Control and Prevention: Prevention and Control of Influenza. MMWR 2008; 57: RR-7

© Redaktion arznei-telegramm, blitz-a-t 22. Dezember 2009

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