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Therapiekritik

MASSENIMPFUNG MIT PREVENAR - ERSTE DATEN AUS EUROPA

Seit 2006 wird die Impfung mit dem Pneumokokken-Konjugatimpfstoff PREVENAR in Deutschland allgemein für alle Säuglinge empfohlen (a-t 2006; 37: 87-9). Zur selben Zeit haben auch verschiedene andere europäische Länder die Immunisierung in den allgemeinen Impfplan für Kinder aufgenommen. Die sieben Serotypen, die der Impfstoff abdeckt, sind die vorherrschenden Erreger invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei Säuglingen in den USA. Die Serotypenverteilung in Europa weicht davon ab. Es gab daher Vorbehalte gegenüber der generellen Impfung mit PREVENAR in Europa: Das Problem des Serotypen-Replacement durch den Selektionsdruck bei Massenimpfung mit dem Impfstoff wurde besonders für Regionen befürchtet, in denen schon zuvor in hohem Prozentsatz Nicht-Impfstoff-Serotypen zirkulieren.1 In Deutschland gab es 2006 nicht einmal eine hinreichende Surveillance, um diese Entwicklung zu kontrollieren.

Inzwischen liegen erste europäische Analysen zur Auswirkung der Massenimpfung auf die Häufigkeit invasiver Pneumokokkenerkrankungen vor. Landesweite Auswertungen aus den jeweiligen Surveillance-Systemen finden wir für Norwegen, Frankreich und Portugal, einen vorläufigen Kurzbericht auch aus Deutschland.2-5

In Norwegen hatte die Impfung vor 2006 keine Bedeutung. Anfang 2008 haben dagegen 80% der 2006 geborenen Kinder über 13 Monate drei Impfdosen* erhalten. Gegenüber den Jahren 2004 und 2005 wird 2007 ein relativer Rückgang invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei unter Fünfjährigen um etwa 50% beobachtet. Ein Anstieg von Erkrankungen mit nicht im Impfstoff enthaltenen Serotypen wird beobachtet, er ist allerdings nicht signifikant.2 Für die Validität der norwegischen Daten spricht, dass invasive Pneumokokkenerkrankungen dort meldepflichtig sind und bereits seit 1977 eine Surveillance besteht. Der Nachbeobachtungszeitraum ist für die Frage der Langzeitfolgen allerdings relativ kurz. Die Übertragbarkeit der Daten auf die hiesige epidemiologische Situation ist zudem fraglich, da die Serotypenabdeckung durch den Impfstoff bei unter Zweijährigen vor der allgemeinen Impfempfehlung 78,5% beträgt2 und damit näher an der US-amerikanischen Rate (83%2) liegt als an der in Deutschland (64%6).

* Das offiziell empfohlene Impfschema sieht in Norwegen zwei Impfdosen zur Grundimmunisierung und eine Boosterdosis vor; Deutschland: insgesamt vier Impfdosen bei Impfbeginn im Alter von 2 bis 6 Monaten.

In Frankreich gab es schon seit 2003 eine Empfehlung für "Risikokinder", die so weit gefasst war (z.B. Tagespflege), dass 80% bis 90% aller unter Zweijährigen in diese Kategorie fielen. 44% der sechs bis zwölf Monate alten Kinder haben 2006, dem Jahr der allgemeinen Empfehlung, drei Impfdosen erhalten. Die Serotypenabdeckung durch den Impfstoff bei unter Zweijährigen beträgt 2001 und 2002 68%. Gegenüber diesem Zeitraum wird 2006 auch in Frankreich eine signifikante Abnahme invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei Kindern beobachtet. Sie ist jedoch mit einer Minderung um 20% bis 25% deutlich geringer als in Norwegen und betrifft nur die unter Zweijährigen. Ein signifikanter Rückgang der Erkrankungen durch Impfstoffserotypen (IST) wird dabei durch einen signifikannten Anstieg der durch Nicht-Impfstoff-Serotypen (NIST) zum Teil wettgemacht (Bakteriämien: IST -9,5, NIST +5,2 pro 100.000; Meningitiden: IST -4,6, NIST +2,5 pro 100.000). Bei Betrachtung des zeitlichen Trends fällt auf, dass die Erkrankungshäufigkeit bis 2005 abnimmt, 2006 trotz 20%iger Steigerung der Impfstoffverordnung jedoch nicht weiter sinkt: In dieser späteren Periode wird die Abnahme der Erkrankungen durch Impfstoffserotypen durch Zunahme der durch Nicht-Impfstoff-Serotypen mehr als ausgeglichen. Von den Nicht-Impfstoff-Serotypen sind bei unter Zweijährigen vor allem 19A und 7F häufiger geworden. Sie machen 2006 37% aller invasiven Erkrankungen in dieser Altersgruppe aus. Bei älteren Kindern und Erwachsenen wird kein günstiger Effekt (sog. Herdeneffekt) beobachtet, im Gegenteil: Pneumokokkenbakteriämien kommen hier 2006 im Vergleich zu 2001 und 2002 geringfügig, aber statistisch signifikant häufiger vor.3

Obwohl die Impfung im nationalen Impfprogramm nicht enthalten war, ist die Durchimpfungsrate in Portugal seit 2002 hoch. 2004 sollen 65% aller unter sechs Monate alten Kinder durchschnittlich 2,5 Impfdosen erhalten haben. Gegenüber dem Zeitraum 1999 bis 2001 nehmen 2002 bis 2004 invasive Pneumokokkenerkrankungen jedoch nur bei unter Einjährigen ab. Signifikant ist zudem nur die Abnahme der Erkrankungen durch Impfstoffserotypen, die in dieser Altersgruppe vor der breiten Anwendung der Impfung 56% der invasiven Infektionen verursacht haben. Die Inzidenz bei Ein- bis Fünfjährigen bleibt insgesamt unverändert, bei den Einjährigen nimmt sie numerisch sogar zu. Erkrankungen durch Impfstoffserotypen nehmen bei unter 18-Jährigen insgesamt um 28% ab, am stärksten bei den unter Einjährigen (-55%). Umgekehrt nehmen Erkrankungen durch Nicht-Impfstoff-Serotypen bei Kindern und Jugendlichen insgesamt um 71% zu, darunter vor allem der häufig multiresistente Keim 19A sowie 1, 7F, 3 und 33F.4

In Deutschland hat das Robert Koch-Institut 2007 eine internetgestützte Surveillance invasiver Pneumokokkenerkrankungen eingerichtet (PneumoWeb7), an der sich Labore beteiligen und die erstmals Erkrankungen in allen Altersgruppen erfasst. Auswertungen, aus denen sich Trends ablesen lassen, sind aus diesem Überwachungssystem bislang nicht publiziert. Wir finden lediglich eine Kurzmitteilung über die vom PREVENAR-Hersteller Wyeth gesponserte Erfassung im Rahmen der Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED). Danach wäre die Erkrankungszahl bei Kindern unter 16 Jahren auch hierzulande zurückgegangen, hauptsächlich bei den unter Zweijährigen. Auch in Deutschland hätten demnach Erkrankungen durch Impfstoff-Serotypen abgenommen, der Anteil derer durch Nicht-Impfstoff-Serotypen dagegen zugenommen,5 wobei nähere Angaben und absolute Zahlen fehlen. Ohnehin enthält der Kurzbericht kaum Angaben zur Methodik und wesentliche Ergebnisse ausschließlich als Grafik. Vor allem bleibt unklar, ob und inwieweit die zweimal geänderten Meldevorgaben für Pneumokokkenerkrankungen in ESPED die Meldezuverlässigkeit beeinträchtigt und somit zu einer Verzerrung der Daten geführt haben. Ab Juli 2003 sollten die an der Surveillance beteiligten pädiatrischen Kliniken, die bis dahin alle Erkrankungen gemeldet hatten, nur noch Erkrankungen bei geimpften Kindern melden. Erst 2007 wurde wieder die Meldung aller Erkrankungen gefordert.5 Der zeitliche Verlauf der Serotypen-Verteilung spricht dafür, dass zumindest ein Teil des beobachteten Erkrankungsrückgangs auf der Impfkampagne beruht. Das Ausmaß bleibt jedoch offen. Offen ist auch die weitere Entwicklung. Wyeth hat im Dezember 2008 bereits die Zulassung für einen 13-valenten Impfstoff beantragt, der auch die Serotypen 19A, 1 und 7F umfasst.

Der auf US-amerikanische epidemiologische Verhältnisse zugeschnittene Konjugatimpfstoff PREVENAR geht nach Korrelationsdaten aus mehreren Ländern bei breiterer Anwendung auch in Europa zumindest kurzfristig mit einem Rückgang invasiver Pneumokokkenerkrankungen bei kleinen Kindern einher.

Eindrückliche Daten kommen aus Norwegen mit einer relativen Abnahme um etwa 50% bei unter Zweijährigen. Der Beobachtungszeitraum dürfte hier für eine Einschätzung der längerfristigen epidemiologischen Folgen der Massenimpfung aber zu kurz sein.

Eine deutliche Abnahme der Erkrankungshäufigkeit bei unter Zweijährigen soll es auch in Deutschland geben. Nachprüfbare Daten liegen dazu bislang jedoch nicht vor. Ein Teil des "Rückgangs" könnte zudem auf Meldeversäumnissen beruhen, die daraus resultieren, dass die Falldefinition in den vergangenen Jahren zweimal grundlegend geändert wurde.

Aus Frankreich und Portugal, wo der Impfstoff schon länger breiter angewendet wird, kommen Hinweise auf eine signifikante Zunahme von Erkrankungen durch Nichtimpfstoffserotypen, die den Gewinn durch Rückgang der Erkran- kungsrate mit Impfstoffserotypen teilweise oder ganz wettmacht.

Ob die Krankheitslast durch generelle Säuglingsimpfung mit PREVENAR in Europa und insbesondere in Deutschland dauerhaft gesenkt wird, ist weiterhin offen. Die Durchimpfung eines Jahrgangs kostet hierzulande 180 Mio. Euro.

  1 JEFFERSON, T. et al.: Lancet Infect. Dis. 2006; 6: 405-10
  2 VESTRHEIM, D.F. et al.: Vaccine 2008; 26: 3277-81
  3 LEPOUTRE, A. et al.: Eurosurveillance 2008; 13, Nr. 7-9: 1-6
  4 DIAS, R., CANIÇA, M.: FEMS Immunol. Med. Microbiol. 2007; 51: 35-42
  5 RÜCKINGER, S. et al.: Kinderärztl. Prax. 2008; 79, Sonderheft "Impfen": 24-6
  6 RÜCKINGER, S. et al.: Vaccine 2008; 26: 3984-6
  7 Robert Koch-Institut: PneumoWeb - Laborsurveillance invasiver Pneumokokken-Erkrankungen am Robert Koch-Institut, 25. Sept. 2008; zu finden unter http://www.rki.de mit Suchwort "PneumoWeb"

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 6. März 2009

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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