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Neu auf dem Markt

DULOXETIN (YENTREVE)
BEI BELASTUNGSINKONTINENZ

Seit August wird der Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin (YENTREVE) zur Behandlung mittelschwerer bis schwerer Belastungsinkontinenz* der Frau angeboten. In den USA ist Duloxetin unter dem Warenzeichen CYMBALTA als Antidepressivum und bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie zugelassen. Die Einführung als Antidepressivum steht nach positivem Votum der europäischen Zulassungsbehörde (EMEA) auch hierzulande bevor.

Die Werbung für YENTREVE verspricht eine "signifikante Verringerung der Inkontinenz-Ereignisse" und "hohe Therapiezufriedenheit dank Wirksamkeit und Verträglichkeit."1 Der Hersteller Boehringer Ingelheim/Lilly besetzt ein Indikationsgebiet, in dem bisher kein medikamentöser Therapiestandard existiert. Therapie der Wahl sind Training des Beckenbodens und bei Versagen chirurgische Maßnahmen.

EIGENSCHAFTEN: Duloxetin hemmt im zentralen Nervensystem die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin. Die Anreicherung dieser Neurotransmitter im "Onufschen Nukleus" im Sakralmark soll eine erhöhte Aktivität des Harnröhrenschließmuskels verursachen. Ob jedoch dieser Wirkmechanismus bei Menschen überhaupt eine Rolle spielt, ist fraglich. Die experimentell an Katzen erhobenen Wirkungsmodelle ließen sich in Untersuchungen bei Patientinnen mit schwerer Belastungsinkontinenz nicht reproduzieren. Die europäische Zulassungsbehörde erachtet den Wirkmechanismus als ungeklärt.2

Die Bioverfügbarkeit beträgt 32% bis 80%, die maximale Konzentration wird nach sechs Stunden erreicht. Duloxetin wird durch die Zytochrom P450- Isozyme CYP 1A2 und CYP 2D6 metabolisiert. Die gleichzeitige Einnahme starker Hemmstoffe von CYP 1A2 wie Fluvoxamin (FEVARIN u.a.) oder Ciprofloxacin (CIPROBAY u.a.) führt zu deutlichen Anstiegen der Serumkonzentration von Duloxetin und ist kontraindiziert.2

WIRKSAMKEIT: Vier zulassungsrelevante plazebokontrollierte Studien über drei Monate, davon eine zur Dosisfindung, erfassen knapp 2.200 Patientinnen mit alleinigen oder vorherrschenden Symptomen einer Stressinkontinenz.3-6 Drei der Studien sind identisch konzipiert und werden in weiten Passagen mit gleichem Wortlaut veröffentlicht.4-6 Als Erfolgskriterien dienen die Reduktion wöchentlicher Inkontinenz-Ereignisse (IEF: Incontinence Episode Frequency) und die Verbesserung in einem krankheitsspezifischen Fragebogen (Incontinence quality of life). Die in Tagebüchern erfasste Anzahl der Inkontinenz-Ereignisse verringert sich bei gepoolter Auswertung von 17 pro Woche in den Duloxetin-Gruppen um durchschnittlich 8,8, unter Plazebo um 5,6. In den einzelnen Studien liegt der Vorteil gegenüber Plazebo bei 1,5 bis 3,9 pro Woche.2 Selbst dieser geringe therapeutische Gewinn erscheint jedoch geschönt: Da viele Frauen die Behandlung mit Duloxetin wegen Nutzlosigkeit oder Störwirkungen frühzeitig absetzen und ihre Beschwerden nicht dokumentieren, werden 15% der Verumanwenderinnen nicht in die Auswertung einbezogen. Dies kann eine Verzerrung der Ergebnisse zu Gunsten von Duloxetin bewirken. Da Patientinnen mit mehr als 13 Inkontinenzereignissen pro Woche verhältnismäßig mehr zu profitieren scheinen, ist die Zulassung auf diese, als mittelschwer bis schwer definierten Krankheitsbilder beschränkt.

Bei gemeinsamer Auswertung der veröffentlichten Studien bessert sich die "krankheitsspezifische" Lebensqualität nach zwölf Wochen unter Duloxetin um 9, unter Plazebo um 6 Punkte.2 Ob der Unterschied von 3 Punkten bei einer Gesamtskala von 0 bis 100 relevant ist, darf bezweifelt werden. Eine auf 36 Wochen angelegte, nicht veröffentlichte Studie findet keinen Einfluss auf die krankheitsspezifische Befindlichkeit.2,7

Valide Studien zum Einfluss von Duloxetin auf die Operationsnotwendigkeit liegen nicht vor. Ob ein Zusatznutzen von Duloxetin bei Patientinnen mit adäquatem Beckenbodentraining besteht oder wie groß dieser ist, lässt sich mangels veröffentlichter Daten ebenfalls nicht einschätzen.

UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: In den Kurzzeitstudien bricht jede fünfte Frau die Behandlung wegen Störwirkungen ab, bei längerer Einnahme sogar jede dritte.2 Am häufigsten wird über Übelkeit (23%), Mundtrockenheit (13,5%), Müdigkeit und Schlaflosigkeit (je 13%) sowie Verstopfung (11%) geklagt. Erhöhung der Transaminasen sowie Myopathie mit Anstieg der Kreatinkinase sind dokumentiert.2

Mit Entzugserscheinungen wie Schlaflosigkeit, Unruhe und Alpträumen ist beim Absetzen zu rechnen. Ausschleichen der Medikation wird daher empfohlen. Alarmierend ist auch das Auftreten von Suizidgedanken, ähnlich wie bei Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI; a-t 2003; 34: 114). Eine gesunde Probandin hat in der Phase der Dosisreduktion Selbstmord begangen. Die EMEA äußert Bedenken, dass der Zusammenhang zwischen Einnahme von Duloxetin und Suizidgedanken wegen des Gebrauchs außerhalb des psychiatrischen Bereiches übersehen werden kann.2

KOSTEN: Bezogen auf eine Tagesdosis von 80 mg Duloxetin (YENTREVE) und Packungen mit 56 bzw. 98 Kapseln zu 40 mg betragen die monatlichen Kosten in Deutschland 69 € bzw. 62,75 €, in Österreich bezogen auf 56 Kapseln 103,61 €.

Mit dem Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin (YENTREVE) kommt ein Antidepressivum zur Behandlung der Stressinkontinenz auf den Markt, dessen allenfalls marginaler Nutzen nur für drei Monate nachgewiesen ist. Der Wirkmechanismus ist entgegen Herstellerangaben ungeklärt.

Störwirkungen sind häufig und führen kurzfristig bei 20%, während langfristiger Einnahme bei 30% zum Therapieabbruch.

Suizid und Suizidgedanken sind beschrieben.

Die positive Bewertung der europäischen Zulassungsbehörde erscheint uns aufgrund des geringen Nutzens und des bedrohlichen Störwirkungspotenzials nicht nachvollziehbar. Wir raten von der Einnahme ab.


© 2004 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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