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PERIOPERATIVES MANAGEMENT BEI ORALER ANTIKOAGULATION

Die häufigsten Indikationen für eine orale Antikoagulation mit Phenprocoumon (MARCUMAR u.a.) sind die Prophylaxe arterieller Embolien bei Vorhofflimmern oder mechanischen Herzklappen sowie die Sekundärprophylaxe nach venösen Thromboembolien. Die Frage des optimalen Vorgehens, wenn bei diesen Patienten diagnostische (Endoskopien mit/ohne Biopsie, Angiographien, Punktionen o.ä.) oder chirurgische Eingriffe durchgeführt werden müssen, ist bisher ungeklärt, gleichwohl von großer praktischer Relevanz. Randomisierte Studien liegen zu diesem Thema nicht vor. Alle Empfehlungen basieren auf mehr oder weniger großen, bestenfalls prospektiven Beobachtungsstudien.1

Wenn eine Unterbrechung der oralen Antikoagulation erforderlich ist, wird herkömmlich die überlappende intravenöse Behandlung mit unfraktioniertem Heparin (LIQUEMIN N u.a.) empfohlen: Absetzen des oralen Antikoagulans vier bis sechs Tage vor dem Eingriff, bei INR*-Werten unter dem therapeutischen Bereich Beginn mit unfraktioniertem Heparin, Adjustierung der Dosis auf 1,5- bis 2fach verlängerte aPTT-Werte, Stopp des Heparins vier bis acht Stunden vor dem Eingriff, postoperativ nach Blutstillung Neubeginn mit oraler Antikoagulation und Weiterführung von Heparin, bis die INR-Werte wieder im therapeutischen Bereich liegen.

Dieses klassische Verfahren ist aufwändig und mit verlängerten stationären Aufenthalten und höheren Kosten verbunden.2 Deshalb wird häufiger auf unfraktionierte Heparine in niedriger (prophylaktischer) Dosierung ausgewichen, die aber in vielen Situationen nicht ausreichen dürften. Zunehmend wird ein differenzierteres, an die Risiken adaptiertes Vorgehen unter Einbeziehung fraktionierter Heparine empfohlen.

Wichtige Entscheidungskriterien sind das Risiko für Thromboembolien bei Unterbrechung der oralen Antikoagulation, das Blutungsrisiko beim Eingriff unter Fortführung der oralen Antikoagulation sowie die Wirksamkeit und Sicherheit alternativer Antikoagulationsverfahren. Für das Thromboembolierisiko und seine relative Reduktion durch antikoagulatorische Therapie liegen ausreichend verlässliche Daten vor (Tabelle 1).3 Es wird weiter durch individuelle Faktoren modifiziert. Zudem wird die klinische Relevanz einer venösen Thromboembolie anders zu bewerten sein als die einer arteriellen.

Das Risiko von Blutungen unter Antikoagulation nach einem Eingriff ist variabler und schlechter zu beziffern. Eine erst am Abend nach unkompliziertem Eingriff (wieder-) begonnene orale Antikoagulation erhöht das Blutungsrisiko nicht. Unter therapeutisch dosierten, zur Überbrückung ("bridging") verwendeten Heparinen werden in Übersichten Blutungen bis zu 10% angegeben, schwerwiegende um 1%.1,4 Eine größere prospektive Beobachtungsstudie findet ähnliche Raten.5 Für praktische Zwecke bietet sich eine Einteilung in Eingriffe mit niedrigem und hohem Blutungsrisiko an (Tabelle 2).1,4 Zu berücksichtigen sind dabei auch die speziellen Gefahren durch Blutungen (z.B. ZNS) und die Möglichkeit lokaler Behandlungen (z.B. Kompression) nach den Eingriffen.

Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein der begrenzten Studienlage werden von verschiedenen Seiten recht einheitliche Empfehlungen gegeben.1,2,4,6- 8

Bei Eingriffen mit niedrigem Blutungsrisiko braucht die orale Antikoagulation nicht unterbrochen zu werden und sollte, speziell bei Zahnextraktionen, in gleicher Dosis fortgesetzt werden. In anderen Fällen wäre eine vorübergehende (vier bis sechs Tage) Dosisreduktion zu erwägen, sodass der Eingriff bei INR-Werten um 1,5 durchgeführt werden kann. Diese Werte gelten in Hinblick auf Blutungskomplikationen als weitgehend sicher. Nach dem Eingriff ist die orale Antikoagulation in ursprünglicher Dosis weiter zu führen. Bei hohem Thromboembolierisiko kann nach dem Eingriff bis zum Wiedererreichen der angestrebten INR-Werte fraktioniertes (z.B. täglich 20-40 mg Enoxaparin oder 2.500-5.000 Anti-XaE Dalteparin [FRAGMIN] s.c.) oder unfraktioniertes Heparin (dreimal täglich 5.000 IE s.c.) in niedriger, prophylaktischer Dosis erwogen werden.

Bei hohem Blutungsrisiko soll die orale Antikoagulation unterbrochen und der Eingriff bei normalen oder nahe normalen INR-Werten (unter 1,3) durchgeführt werden. Meist sind vier bis sechs Tage notwendig, bei intensiverer Antikoagulation (INR über 3, mechanische Herzklappen) auch mehr. Am Tag vor dem Eingriff sollte der Abfall des INR kontrolliert werden, sodass bei Bedarf eine geringe Dosis Vitamin K (1 mg s.c.) verabreicht werden kann. Nach dem Eingriff soll die orale Antikoagulation möglichst noch am selben Tag wieder aufgenommen werden. Das weitere Vorgehen orientiert sich am anzunehmenden Thromboembolierisiko.

Bei niedrigem Thromboembolierisiko (z.B. Vorhofflimmern ohne vorherigen Insult und ohne Zusatzrisiken; venöse Thromboembolie vor mehr als drei Monaten) kann auf eine zusätzliche Antikoagulation vor dem Eingriff verzichtet werden. Ist durch den Eingriff ein hohes (venöses) Thromboembolierisiko zu erwarten, wird anschließend bis zum Erreichen der angestrebten INR-Werte unter der wieder aufgenommenen oralen Antikoagulation zusätzlich fraktioniertes oder unfraktioniertes Heparin in prophylaktischer Dosis (s.o.) empfohlen.

Bei mittlerem Thromboembolierisiko (Vorhofflimmern mit erhöhtem Embolierisiko wie Alter über 65 Jahre, Hypertonus, Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, aber ohne vorherigen Insult; mechanische Aortenklappe ohne Herzinsuffizienz oder vorherigen Insult; venöse Thromboembolie vor mehr als drei Monaten bei weiter erhöhtem Rezidivrisiko wie früheres Rezidiv, aktive Krebserkrankung oder andere bekannte Thrombophilie) sollten schon zwei Tage vor dem Eingriff und anschließend weiter bis zum Erreichen der angestrebten INR-Werte prophylaktische Dosierungen fraktionierter oder unfraktionierter Heparine (s.o.) gegeben werden.

Bei hohem oder sehr hohem Thromboembolie-Risiko (Vorhofflimmern mit früherer Embolie, Herzinsuffizienz oder Mitralstenose; mechanische Mitralklappe; mechanische Aortenklappe mit früherer Embolie, Herzinsuffizienz oder Vorhofflimmern; venöse Thromboembolie in den letzten drei Monaten; arterielle Embolie anderer Ursache im letzten Monat) ist eine Überbrückung der Antikoagulation notwendig, sobald die INR-Werte nach Unterbrechung der oralen Antikoagulation in subtherapeutische Bereiche (unter 2) fallen - meist zwei Tage vor dem Eingriff. Für das "bridging" sind therapeutische Dosierungen fraktionierter (z.B. täglich zweimal 1 mg/kg Körpergewicht [KG] Enoxaparin oder zweimal 100-Anti-XaE/kg KG Dalteparin s.c.) oder unfraktionierter Heparine (als Ziel 1,5-2fach verlängerte aPTT-Werte) notwendig. Unfraktioniertes Heparin kann zunächst auch subkutan, sollte dann aber in der Vorbereitung des Eingriffes intravenös verabreicht werden. Die Gabe ist etwa sechs Stunden vor dem Eingriff zu stoppen. Bei den fraktionierten Heparinen sollte die Tagesdosis auf zwei Einzelgaben verteilt und die letzte Dosis nicht später als zwölf Stunden vor dem Eingriff injiziert werden. Bei unkompliziertem Verlauf wird die Heparintherapie 12 bis 24 Stunden nach dem Eingriff in therapeutischer Dosis wieder aufgenommen und bis zum Erreichen der angestrebten INR- Werte (über 2) fortgeführt.

Als Hauptargument für das "bridging" mit fraktionierten Heparinen wird oft angeführt, dass sie eine weitgehend ambulante Durchführung ohne Laborkontrollen erlauben und damit stationäre Verweilzeit und Kosten reduzieren.2,4,5,9 Ihre gegenüber unfraktionierten Heparinen längere Wirkdauer und schlechtere Antagonisierbarkeit können jedoch bei Blutungskomplikationen von Nachteil sein. Im Gegensatz zu unfraktionierten sind fraktionierte Heparine nicht für das "bridging" zugelassen, was eine besondere Aufklärung und Dokumentation erfordert. Wegen einiger Berichte über Klappenthrombosen bei Schwangeren unter prophylaktischen Dosierungen werden auch Zweifel geäußert, ob sie bei hohem kardialen Embolierisiko ausreichend effektiv sind.6,8 Der Hersteller von Enoxaparin warnt vor der Verwendung zur Embolieprophylaxe bei künstlichen Herzklappen.10 Über erfolgreiche Anwendungen liegen jedoch zahlreiche Berichte vor,1,4 erst kürzlich auch aus größeren prospektiven Studien mit festgelegtem Dosierungsregime.5,11 Die Raten an Embolien und schweren Blutungen liegen dabei je um 1%, die von leichten Blutungen zwischen 6% und 10%. Andere Zusammenstellungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen.1,12 Nach der Datenlage scheint somit der Einsatz von fraktionierten Heparinen beim "bridging" vertretbar. Am besten untersucht ist Dalteparin.

Bisher liegen keine randomisierten kontrollierten Studien zum optimalen Management einer oralen Antikoagulation bei Eingriffen vor. Alle Empfehlungen gehen auf Ergebnisse aus Beobachtungsstudien zurück.

Bei minimalem Blutungsrisiko durch den Eingriff kann die Antikoagulation oft unverändert weitergeführt werden.

Bei üblichen Blutungsrisiken und geringem bis mäßigem Thromboembolierisiko sollte die orale Antikoagulation unterbrochen werden. Nach dem Eingriff und ggf. auch zuvor ist die Anwendung fraktionierter oder unfraktionierter Heparine in prophylaktischer Dosis zu erwägen.

Bei hohem Thromboembolierisiko muss zur Überbrückung fraktioniertes oder unfraktioniertes Heparin in therapeutischer Dosierung gegeben werden. Für den Eingriff sollte die Heparinantikoagulation so kurz wie möglich unterbrochen werden.

Fraktionierte Heparine sind für das "bridging" nicht zugelassen. Bei entsprechender Aufklärung scheint die Verwendung speziell von Dalteparin (FRAGMIN) aber vertretbar.

© 2004 arznei-telegramm

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