Patienten mit Krebs haben relativ häufig eine Anämie. Diese ist meist durch die chronische Erkrankung selbst bedingt, oft verstärkt durch
Chemo- oder Strahlentherapie. Die Blutarmut kann mit Beschwerden wie Tachykardie oder Müdigkeit einhergehen und die Lebensqualität
beeinträchtigen, aber auch lebensbedrohlich verlaufen. Bei bestimmten malignen Tumoren, z.B. Tumoren des Mund- und Rachenraums (head and neck
cancer), gilt die Anämie als unabhängiger prognostischer Faktor, u.a. wegen schlechteren Ansprechens eines hypoxischen Tumors auf Radio- oder
Chemotherapie.1
Seit Jahrzehnten wird die schwere Tumoranämie mit Erythrozytentransfusionen behandelt. Seit den 90er Jahren wird zunehmend auch das gentechnisch
hergestellte menschliche Erythropoietin verwendet, ein Glykoprotein-Hormon, das die Bildung roter Blutkörperchen stimuliert. Die beiden verfügbaren
rekombinanten Formen (Epoetin alpha [ERYPO, EPREX] und Epoetin beta [NEORECORMON]) sollen ähnlich wirken.1 Nach einer systematischen
Übersicht, an der auch ein Epoetin-Hersteller beteiligt ist, senkt die Therapie anämischer Krebspatienten mit Erythropoietin den
Transfusionsbedarf.2 Der Einfluss des Hormons auf den Verlauf der Krebserkrankung und die Lebenserwartung der Patienten ist jedoch nicht
geklärt.1 Daten zum Einfluss auf die Lebensqualität sind unzureichend.3
In einer soeben publizierten randomisierten kontrollierten Studie prüft eine deutsch-schweizerische Arbeitsgruppe, wie sich Epoetin beta bei Patienten mit
Plattenepithelkarzinomen im Bereich des Mund-Rachenraumes sowie des Kehlkopfes und Hämoglobinwerten unter 12 g/dl bei Frauen bzw. unter 13 g/dl bei
Männern auf das progressionsfreie Überleben auswirkt. 86% der Teilnehmer sind Männer, 74% haben einen Tumor im Stadium IV*. Raucher sind im
Epoetin-Arm mit 66% vs. 53% häufiger. Alle 351 teilnehmenden Patienten werden ausschließlich oder postoperativ strahlentherapeutisch behandelt. Sie
beginnen 10 bis 14 Tage vor der Radiotherapie mit drei s.c.-Injektionen/Woche von Epoetin beta (300 E/kg Körpergewicht) oder Plazebo. Die Anwendung
wird unterbrochen, wenn das Hämoglobin auf mindestens 14 bzw. 15 g/dl oder in einer Woche um mehr als 2 g/dl steigt, und wieder aufgenommen, wenn es
unter den Zielwert sinkt.4 Der NEORECORMON-Hersteller und Studien-Sponsor Roche ist maßgeblich an der Durchführung der Studie, der
Datenanalyse und Publikation der Ergebnisse beteiligt.
* |
nach AJCC = American Joint Cancer Committee
|
Die mittleren Hämoglobinwerte betragen neun Wochen nach Therapiebeginn 15,4 g/dl unter Epoetin im Vergleich zu 12,9 g/dl unter Plazebo. Im Epoetinarm
erleiden mit 64,4% (116 von 180) signifikant mehr Patienten ein lokales Fortschreiten ihrer Erkrankung oder sterben als unter Plazebo (53,8% [92 von 171 Patienten];
relatives Risiko [RR] 1,62; 95% Vertrauensintervall [CI] 1,22 bis 2,14; Number needed to harm = 10). Auch die Gesamtsterblichkeit ist unter Verum höher (60,5%
vs. 52%; RR 1,39; 95% CI 1,05 bis 1,84). Die mediane Überlebenszeit beträgt hier 19,9 Monate im Vergleich zu 30,5 Monate unter Plazebo.4 Die
höhere Progressions- und Sterberate betrifft hauptsächlich Patienten, deren Tumor nicht oder nicht vollständig reseziert wurde.4
Unerwünschte Wirkungen sind unter Erythropoietin numerisch häufiger. Vaskuläre Komplikationen wie Hypertonie und venöse
Thromboembolie, bekannte Schadeffekte von Erythropoietin, kommen unter Verum bei 11% vor im Vergleich zu 5% unter Plazebo. Die Angaben zu den
Todesursachen sind wenig aufschlussreich. Danach unterscheiden sich die Gruppen hinsichtlich kardialer (Epoetin vs. Plazebo: 5,6% vs. 2,9%) und
"allgemeiner" (5% vs. 0,58%) Erkrankungen als Todesursache.4
Der schädliche Einfluss von Erythropoietin auf den Krankheitsverlauf bei Tumorpatienten lässt sich mit den bekannten wachstumsfördernden und
antiapoptotischen** Effekten des Hormons vereinbaren.4 Die Studie bestätigt zudem eine bislang nicht vollständig veröffentlichte
randomisierte kontrollierte Untersuchung, an der über 900 Frauen mit metastasiertem Brustkrebs teilgenommen haben. Die primär auf das Überleben
nach einem Jahr angelegte Studie musste vor kurzem wegen erhöhter Sterblichkeit unter Epoetin alpha (76% vs. 70%, p = 0,0117) vorzeitig abgebrochen
werden.5 In einer weiteren Studie sollen die Daten zwar für eine höhere Überlebensrate unter Epoetin sprechen. Der Endpunkt der
Überlebensrate wurde hier jedoch erst zwölf Monate nach Abschluss der Studie eingeführt. Ein "Trend" (p = 0,052) zugunsten von
Epoetin errechnet sich zudem erst nach Adjustierung auf Grund verschiedener Risikofaktoren.6
** |
Apoptose = programmierter Zelltod
|
Gentechnisch hergestelltes Erythropoietin (NEORECORMON u.a.) wird zur
Behandlung von Tumoranämien verwendet, ohne dass ausreichende Daten für einen günstigen Einfluss auf Lebensqualität und
Lebenserwartung der Patienten vorliegen.
Nach aktuellen Befunden erhöht Erythropoietin das Risiko der
Tumorprogression und Sterblichkeit von Patienten mit Karzinomen im Bereich des Mund- und Rachenraums sowie des Kehlkopfs (head and neck cancer). Auch in
einer Studie bei metastasiertem Brustkrebs verkürzt Erythropoietin die Lebenserwartung.
Weitere randomisierte kontrollierte Studien, die primär auf die Sterblichkeit von
Krebspatienten unter Erythropoietin angelegt sind, sind jetzt dringend erforderlich, bevor das Mittel zur Anämiebehandlung und vermeintlichen Besserung der
Lebensqualität weiterhin breit verwendet wird.
Angesichts der Datenlage raten wir außerhalb von solchen auf die Sicherheit
des Mittels angelegten kontrollierten Studien von der Erythropoietin-Anwendung bei Tumorpatienten ab.
|