logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 1998; Nr. 6: 53-4nächster Artikel
Im Blickpunkt

ARZNEIMITTELSICHERHEIT UND VIAGRA -
PLÄDOYER FÜR DIE EINSTWEILIGE MARKTRÜCKNAHME

Einige Arzneimittelnamen stehen für mehr als nur für die Bezeichnung eines Arzneistoffs. So gilt CONTERGAN als Synonym für die Arzneimittelkatastrophe schlechthin und die Notwendigkeit, ein Arzneimittelgesetz zur Risikoabwehr zu schaffen. Der als Krebsmittel bezeichnete Presssaft der fleischfressenden Pflanze Venusfliegenfalle CARNIVORA erinnert an die fatalen Folgen, wenn lebensbedrohliche Schadeffekte als Wirksamkeitsbeleg fehldeklariert werden (a-t 7 [1985], 51; 8 [1986], 70; vgl. Silikon, Seite 60). Schließlich bringt der Appetithemmer PONDERAX die Erfahrung, dass häufige lebensbedrohliche Risiken auch noch ein Vierteljahrhundert nach Markteinführung erstmals auffällig werden können (a-t 9 [1997], 100).

Auch das Potenzmittel Sildenafil (VIAGRA) hat bereits einen Platz unter den bedeutungsträchtigen Arzneimitteln. Als Schnellstarter Nr. 1 der Arzneigeschichte gelangt es innerhalb von sechs Wochen von null auf eine Million Verordnungen. Dies beflügelt zwar die Börse, gilt aber unter Experten für Arzneimittelsicherheit als höchste Alarmstufe. So ließ sich der in den 80er Jahren durch die Laienpresse stimulierte Massengebrauch von CARNIVORA angesichts lebensbedrohlicher Schockreaktionen nur durch Vertriebsstopp in den Griff bekommen (a-t 1 [1986], 6). Aggressive Werbung in Fach- und Laienmedien bescherten Lilly ein Anfangshoch in den Verordnungszahlen des Rheumamittels Benoxaprofen (COXIGON). Wegen tödlicher Cholestase oder Nierenversagens sowie schwerer Hautschäden musste es brüsk gestoppt werden (a-t 7 [1982], 61; 8 [1983], 75). Ein ähnliches Strohfeuer erlebten die als "Rheumainnovation dieses Jahrzehnts" bezeichneten Indometazin-Retard-Formulierungen AMUNO GITS/OSMOGIT, die wenige Monate nach Markteinführung wegen ihres "Lötlampeneffektes" an der Magen-Darm-Schleimhaut aus dem Handel gezogen werden mussten (a-t 9 [1983], 87).

Kurz nach Einführung in den USA hat VIAGRA weltweit bereits den Status einer Lifestyle-Droge. Die Internet-Buchhandlung amazon.com offeriert bereits vier Bücher über VIAGRA. Der Vertrieb des verschreibungspflichtigen Mittels entzieht sich jeder Kontrolle. Zwar darf es nur nach Vorlage eines Rezeptes durch Apotheken importiert werden. Es kann jedoch leicht mit Hilfe virtueller "Ärzte" per Internet (cave wirkstofffreie Fälschungen) oder über Kleinanzeigen, die in Tageszeitungen geschaltet werden, über die Schweiz bezogen werden. So gelangt VIAGRA ohne ärztliche Untersuchung an den Verbraucher. Gerade diese ist angesichts der Risiken des Potenzmittels dringend erforderlich:

Todesfälle in Verbindung mit VIAGRA werden auf verstärkten, irreversiblen Blutdruckabfall in Kombination mit Glyzeroltrinitrat (NITROLINGUAL u.a.) und ähnlichen Mitteln zurückgeführt. Ist Herzmuskelgewebe minderversorgt, kann dies zu Infarkt und Tod führen. Pfizer warnt in den USA vor der Interaktion mit Nitraten und dem NO-Donor Nitroprussid-Natrium (NIPRUSS). Erfahrungsgemäß werden solche Hinweise jedoch selbst bei lebensbedrohlichen Folgen der Fehlanwendung oft nicht beachtet (Beispiel Terfenadin [TELDANE]: a-t 1 [1997], 16). Zudem besteht gerade bei einem Potenzmittel eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Männer sich über alle Warnungen hinwegsetzen. Die Boulevardpresse fördert und bespöttelt dies zugleich: "Alt, herzkrank - trotzdem schlucken sie die Potenzpille" (Bild vom 25. Mai 1998). Pfizer/USA fordert Intensivmediziner auf, bei allen Männern mit Herzkreislaufversagen nachzuforschen, ob sie Herzmedikamente mit VIAGRA kombiniert haben. Niedriger Blutdruck, Schlaganfall oder Herzinfarkt in aktueller Vorgeschichte sowie schwere Herz- oder Leberprobleme gelten als Gegenanzeigen.

Die Erfassung unerwünschter Effekte außerhalb kontrollierter Studien bereitet besondere Schwierigkeiten. Selbst tödliche Anwendungsfolgen bleiben unerkannt. Die Einnahme von Sildenafil dürfte Partnerin und Angehörigen oft verborgen bleiben, und Tod beim Geschlechtsverkehr kommt bei älteren Männern immer wieder vor. Ist eine Nebenwirkung Teil einer alltäglichen Situation oder der zu behandelnden Erkrankungen, wird ein Medikament als Auslöser oft übersehen. Solche Abgrenzungsschwierigkeiten verhinderten, dass die leberschädigenden Effekte des "Leberschutzstoffes" Cianidanol (CATERGEN) rechtzeitig erkannt wurden (a-t 9 [1985], 73). Gleiches gilt für Antiarrhythmika, deren lebensbedrohliches arrhythmogenes Potential lange unbeachtet blieb.

Beeinträchtigungen des Sehvermögens (bis 11% bei 50-100 mg, 50% bei mehr als 100 mg) mit Schleiersehen, Stunden anhaltender Farbwahrnehmungsstörung, Blausehen sowie mangelnder Grün-Blau-Unterscheidungsfähigkeit schrecken VIAGRA-Anwender offenbar kaum ab. Vorbestehende Erkrankungen der Netzhaut erscheinen als Risikofaktor. Augenärztliche Kontrollen sind jedoch vor der Verordnung nicht vorgesehen. Langzeitfolgen für die Augen sowie Gefährdung bei Vorschädigung der Retina sind nicht hinreichend geprüft. In Tierversuchen ist Blindheit aufgefallen.

FAZIT: Die unkontrollierbare und ausufernde Verwendung des nur in den USA zugelassenen verschreibungspflichtigen Potenzmittels Sildenafil (VIAGRA; a-t 5 [1998], 50) gefährdet die Anwender. Sie werden nicht vor tödlichen und die Lebensqualität beeinträchtigenden Schadeffekten geschützt. Bereits wenige Wochen nach Markteinführung in den USA gilt VIAGRA weltweit als Lifestyle-Droge. Die europäische Zulassungsbehörde erwartet die Einführung in Staaten der europäischen Union in drei bis vier Monaten. Nur durch Importverbot (z. B. wie in Israel) bzw. Marktrücknahme und Aussetzen der Einführung in Europa lassen sich das Risikopotential mindern und Anwender schützen. Dadurch entsteht der Freiraum, in kontrollierten klinischen Studien zu prüfen, wer wirklich von dem Mittel profitiert und wer davor geschützt werden muss. Erst dann sollte über die Bedingungen des erneuten Inverkehrbringens sowie über die Zulassung in Europa entschieden werden.


© 1998 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 1998; Nr. 6: 53-4nächster Artikel