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ANTIRETROVIRALE THERAPIE DER HIV-ERKRANKUNG*

*  Prophylaxe und Behandlung AIDS-assoziierter Infektionen folgen in einem weiteren Beitrag, –Red.

Im bisher schnellsten Verfahren überhaupt hat die amerikanische Arzneibehörde FDA am 1. März dieses Jahres den Proteasehemmstoff Ritonavir (USA: NORVIR) für die Behandlung der fortgeschrittenen erworbenen Immunschwäche zugelassen. Von Antragstellung bis Erteilung der Zulassung vergingen lediglich 72 Tage. Ähnlich rasch fällt kurze Zeit später die Entscheidung für Indinavir (USA: CRIXIVAN), einen weiteren Vertreter dieser Gruppe. Mit dem seit Dezember 1995 in den USA erhältlichen Saquinavir (USA und Schweiz: INVIRASE) erweitern jetzt drei Arzneimittel aus der neuen Wirkgruppe der Proteasehemmstoffe die Behandlung der Human-Immunodefiency-Virus (HIV)-Erkrankung.

Die bisher verwendeten Nukleosidanaloga wie Zidovudin (AZT, RETROVIR), Didanosin (ddI, VIDEX) und Zalcitabin (ddC, HIVID ROCHE) lassen als falsche Bausteine die Synthese von DNA-Ketten vorzeitig abbrechen und hemmen so die reverse Transkriptase, ein viruseigenes Enzym. Anders als die übrigen RNA-Viren müssen Retroviren wie HIV als ersten Vermehrungsschritt ihre Erbinformation mit Hilfe der reversen Transkriptase in DNA "rückübersetzen".

Proteasehemmer greifen zu einem späten Zeitpunkt in den Zyklus der Virusvermehrung ein: Die HIV-Protease spaltet ein großes Eiweißmolekül in kleinere Strukturproteine, die für den Aufbau infektiöser Viren benötigt werden. Wird das Enzym gehemmt, entstehen unreife, nicht infektiöse Hüllen.

Bis vor kurzem galten für die antiretrovirale Therapie der HIV-Erkrankung die Richtlinien einer Konsensus-Konferenz von 1993 (vgl. a-t 3 [1994], 30):1

  • Einstoffbehandlung mit täglich 600 mg Zidovudin ist Therapie der Wahl,
  • bei Fortschreiten der Erkrankung oder Nichtvertragen des Mittels wird auf einen anderen Hemmstoff der reversen Transkriptase umgestellt,
  • alle symptomatischen Patienten und alle mit T-Helfer (CD4)-Zellzahl unter 200/µl werden behandelt.

Unter dem Eindruck der enttäuschenden Ergebnisse der Concorde-Studie gab die Konsensus-Konferenz keine eindeutige Empfehlung für Patienten ohne HIV-assoziierte Krankheitszeichen und CD4-Zellzahl zwischen 200 und 500/µl. In der britisch-französischen Untersuchung läßt die Frühbehandlung asymptomatischer Patienten mit Zidovudin keinen Vorteil gegenüber verzögertem Therapiebeginn erkennen hinsichtlich Überlebensrate oder Fortschreiten der Infektion zu AIDS oder ARC (AIDS-related-complex, a-t 6 [1993], 59).2,3 Dagegen profitieren in einer großen plazebokontrollierten europäisch-australischen Studie HIV-Infizierte ohne Krankheitszeichen mit einer mittleren CD4-Zellzahl bei 650/µl von der frühen Zidovudin-Anwendung. Während der zweieinhalbjährigen Einnahme erkranken in der Verumgruppe deutlich weniger Teilnehmer an AIDS oder schwerem ARC, und die CD4-Zellzahl fällt seltener unter 350/µl.4

Weitere Untersuchungen bringen widersprüchliche Ergebnisse über den Nutzen der Frühtherapie mit dem Nukleosidanalogon.5-8 Einigkeit besteht darüber, daß der Effekt einer Monotherapie mit Zidovudin zeitlich begrenzt ist, daß die HIV-Infektion trotz Behandlung praktisch immer zu AIDS fortschreitet, daß Zidovudin die Virusmenge lediglich um etwa eine Zehnerpotenz vermindert und daß die breite Anwendung eine zunehmende Resistenzentwicklung der HI-Viren fördert.9

FORTSCHRITT DURCH KOMBINATIONEN: Die Empfehlungen der Konsensus-Konferenz verloren im September letzten Jahres ihre Gültigkeit, als die Ergebnisse der Delta- und der AIDS Clinical Trials Group (ACTG)-175-Studie bekannt wurden. Obwohl die Untersuchungen bisher nur auszugsweise veröffentlicht sind, veränderten sie die antiretrovirale Therapie der HIV-Erkrankung praktisch über Nacht.10 Beide Studien vergleichen die Kombination zweier Nukleosidanaloga mit Zidovudin allein. Das Zweifachschema ist dabei der Monotherapie hinsichtlich Fortschreiten der Erkrankung und Tod deutlich überlegen.

Von den über 2.100 nicht mit Zidovudin vorbehandelten Teilnehmern der Delta-Studie sterben im Beobachtungszeitraum unter Zidovudin allein 17%, unter Zidovudin plus Didanosin bzw. Zalcitabin 10% bzw. 12%. HIV-Infizierten, die das älteste AIDS-Mittel zuvor länger als drei (meist über zwölf) Monate eingenommen hatten, bringt die Kombinationstherapie in dieser Untersuchung keinen Vorteil. Dagegen profitieren die 1.400 mit Zidovudin vorbehandelten Patienten der ACTG-175-Studie von einer Umstellung auf Didanosin oder der Komedikation mit Didanosin.11

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse beginnt heute die Therapie grundsätzlich mit einer Kombination von Zidovudin mit Didanosin oder Zalcitabin. Darüber hinaus setzt sich zunehmend ein früherer Behandlungsbeginn durch. Nach Untergruppenanalysen bringt die Therapie allen Patienten mit CD4-Zellzahl unter 350/µl Nutzen, unabhängig davon, ob klinische Zeichen vorhanden sind oder nicht.10 Studien, die Wirksamkeit und Verträglichkeit verschiedener Kombinationen zur Initialtherapie vergleichen, stehen aus.11 Als liquorgängigstes der verfügbaren Mittel kann Zidovudin die HIV- Enzephalopathie verhüten oder hinausschieben.10,12 Zidovudin hat daher einen festen Platz im Rahmen von Mehrfachschemata.12,13 Seit Mai ist mit Stavudin (d4T, ZERIT) ein weiteres gut liquorgängiges Nukleosidanalogon in der EU zugelassen.

RESISTENZENTWICKLUNG: Die bessere Wirksamkeit der Kombinationstherapie beruht wahrscheinlich auf verzögerter Resistenzentwicklung. Neuere diagnostische Verfahren, die insbesondere die Zahl der Viruskopien im Plasma quantitativ erfassen, bestätigen diese Annahme. Zunehmend werden Parallelen zur medikamentösen Behandlung der Tuberkulose gezogen.

HI-Viren unterliegen einer sehr hohen Replikationsrate. Etwa die Hälfte wird jeden zweiten Tag entfernt und neu gebildet. Pro Tag entstehen durchschnittlich bis zu einer Milliarde Viren. Im gleichen Zeitraum werden bis zu einer Milliarde CD4-Zellen durch HIV zerstört und im Immunsystem neu gebildet. Diese hohen Umsatzraten lassen sich in allen Stadien der Erkrankung nachweisen, auch in der sogenannten Latenzphase nach der Infektion.

Die anhaltend starke Virusvermehrung und die im Laufe der Erkrankung sich ausbildende Heterogenität des Erregers, die unter anderem durch die "Leseungenauigkeit" des Rückübersetzungsenzyms (reverse Transkriptase) bedingt ist, gelten als wesentliche Ursache für die rasche Resistenzentwicklung. Eine antiretrovirale Therapie gilt zur Zeit als effektiv, wenn sie die Viruskonzentration im Plasma mindestens auf ein Zehntel- bis Hundertstel des Ausgangswertes senkt.13

PROTEASEHEMMER: Saquinavir, Indinavir und Ritonavir wirken deutlich stärker antiviral als Nukleosidanaloga. Ritonavir und Indinavir sollen die Vermehrung um 99% reduzieren. Die Zahl der T-Helferzellen steigt im gleichen Zeitraum deutlich an. Schon nach 12 bis 24 Wochen nimmt die Wirksamkeit jedoch zum Teil ab, wahrscheinlich aufgrund von Resistenzentwicklungen. Die Mittel scheinen gut vertragen zu werden. Schwerwiegende toxische Nebenwirkungen traten bisher nicht auf.14

An einer ersten, Mitte April veröffentlichten Untersuchung mit Saquinavir nehmen 302 Patienten im fortgeschrittenen Stadium der AIDS-Erkrankung teil, mit CD4 -Zellzahl zwischen 50 und 300/µl und mindestens viermonatiger Vorbehandlung mit Zidovudin. Die dreiarmige Studie vergleicht den Proteasehemmstoff (1.800 mg pro Tag) zusätzlich zu Zidovudin (600 mg pro Tag) oder Zidovudin plus Zalcitabin (2,25 mg pro Tag) mit einer Kombination der beiden Nukleosidanaloga allein. Geprüft wird der Einfluß auf CD4-Zellzahl und HIV-Titer.15 CD4-Zellen nehmen anfangs in allen Gruppen zu. Nach 24 Wochen liegt die Zahl bei 70% der mit dem Dreifachschema behandelten Patienten über dem Ausgangswert, verglichen mit 63% unter Saquinavir plus Zidovudin und 45% unter Zalcitabin plus Zidovudin. Die Dreierkombination bleibt im Verlauf von 48 Wochen überlegen, die beiden anderen Gruppen gleichen sich an. Umgekehrt sinkt die HIV-RNA-Beladung im Plasma, am stärksten unter Dreifachbehandlung. Der Titer liegt hier auch nach 48 Wochen unterhalb des Ausgangswertes. In allen drei Gruppen steigt die Virusbeladung im Studienverlauf allmählich wieder an.

Unerwünschte Wirkungen unterscheiden sich nicht wesentlich zwischen den Studienarmen. Insgesamt brechen 6% die Untersuchung wegen toxischer Effekte ab.

Das Studiendesign erlaubt keinen Rückschluß auf die klinische Relevanz der geprüften Laborparameter.** Ob Saquinavir im Rahmen von Kombinationstherapien das Fortsetzen der Erkrankung verzögert, muß durch weitere Studien belegt werden.

**

Die Viruskonzentration scheint nach aktuellen Ergebnissen aus der US-Multicentre-AIDS- Cohort-Studie ein hilfreiches Surrogatkriterium zu sein: Von 180 HIV-positiven Männern entwickeln knapp zwei Drittel derjenigen mit hoher initialer Virusbeladung im Verlauf von fünf Jahren AIDS, dagegen nur 8% derjenigen mit geringem Ausgangswert.17

FAZIT: Die antiretrovirale Therapie der HIV-Infektion beginnt heute mit einer Kombination von zwei Nukleosidanaloga. Hierzulande stehen Zidovudin (AZT, RETROVIR), Zalcitabin (ddC, HIVID) und Didanosin (ddI, VIDEX), seit Mai auch Stavudin (d4T, ZERIT) zur Verfügung. Das älteste AIDS-Mittel Zidovudin ist als liquorgängigstes zentraler Baustein von Mehrfachschemata, alternativ bietet sich Stavudin an. Ein optimaler Zeitpunkt für den Therapiebeginn läßt sich derzeit nicht angeben. Hoffnungen knüpfen sich an Proteasehemmer als potente antiretrovirale Medikamente. Es bleibt zu wünschen, daß sich die überlegene Reduzierung der Virusbeladung in klinischen Erfolgen niederschlägt.



© 1996 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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