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vorheriger Artikela-t 1991; Nr. 1: 8 
Warnhinweis

KOMPLIKATIONEN MIT TODESFOLGE NACH RINDERHIRNGANGLIOSID GM1 (SYGEN)

Gegen den Rat von Sachverständigen und erzwungen durch Anwälte des Kölner Unternehmens Madaus kam ein aus Italien stammender Extrakt aus Rinderhirn (CRONASSIAL) auf den deutschen Markt. Die Zulassungskommission A des Bundesgesundheitsamtes hatte dem Injektionspräparat unzureichende Wirksamkeit und den Verdacht nicht vertretbarer schädlicher Wirkungen bescheinigt (vgl. a-t 5 [1986], 33). Aus Rinderhirn gewonnene Ganglioside wirken immunogen und können so Antikörperbildung gegen körpereigene Gangliosidstrukturen an Nervenzellen auslösen. Antikörper gegen Ganglioside kommen bei Erkrankungen des Nervensystems (idiopathische Polyneuritis, amyotrophische Lateralsklerose oder GUILLAIN-BARRE-Syndrom) gehäuft vor. Die exogene Zufuhr von Gangliosiden kann zusätzlich einen Booster-Effekt haben. Auf die Gefahr des durch CRONASSIAL hervorgerufenen GUILLAIN-BARRE-Syndroms hatten wir 1986 hingewiesen.

Unsere Warnung vor immunogenen Wirkungen des Rinderhirngangliosid-Präparates in a-t 7 (1989), 70 führte zum behördlich verfügten Ruhen der Zulassung von CRONASSIAL.

Im NETZWERK DER GEGENSEITIGEN INFORMATION sind 5 Fälle eines GUILLAIN-BARRE-Syndroms in Verbindung mit CRONASSIAL dokumentiert. 2 Erkrankungen verliefen infolge der durch die aufsteigenden Lähmung bedingten Komplikation tödlich. 3 Patienten überlebten.

Auch aus Spanien werden jetzt zwei durch das Produkt ausgelöste GUILLAIN-BARRE-Syndrome berichtet, das dort weiterhin als NEVROTAL vertrieben wird.1 Auch unsere spanischen Kollegen sind der Ansicht, daß die von dem Präparat ausgehenden Gefahren inakzeptabel sind; zumal zweifelsfreie Belege für einen klinischen Nutzen fehlen.

Bei diesem Sachstand ist unverständlich, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland Ärzte finden, die auch nach dem CRONASSIAL-Marktstopp mit derartigen Rinderhirnextrakten an Kranken experimentieren: Bei einem 62jährigen Patienten mit frischem Hirninfarkt im Bereich der Arteria cerebri media stellten sich drei Tage nach Applikation des Rinderhirngangliosid-Versuchspräparates GM1 (in Italien als SYGEN zugelassen) Schüttelfrost, septisches Fieber und ein Verwirrtheitssyndrom ein. Bei Fortsetzung des Therapieversuches mit GM1 in halber Dosierung wurde der Patient im Anschluß an die Infusion des Studienpräparates (30 Minuten später) mit Schüttelfrost unter dem Verdacht auf eine allergische Reaktion kurzzeitig intensivpflichtig. Drei Tage später entwickelte sich eine zunehmende Tetraparese. Bei Beginn der Ateminsuffizienz mußte intubiert und maschinell beatmet werden. Der klinische Befund sprach für eine medikamenteninduzierte Polyneuropathie (Polyradikulitis), die auch histologisch in der Suralisbiopsie als GUILLAIN-BARRE-Syndrom zu deuten war.

Beim Fortschreiten der Erkrankung verstarb der Patient nach sechs Monaten intensivmedizinischer Betreuung im Multiorganversagen infolge abszedierender Pneumonie (NETZWERK-Fall 4364).

Post mortem entsprechen die Befunde am Rückenmark und an den Nerven laut Sektionsbefund "dem Typ einer längerfristig abgelaufenen Polyneuropathie".

Das in Italien bereits 1986 eingeführte SYGEN enthält eines der vier Ganglioside des CRONASSIAL als aktives Wirkprinzip (Monosialotetraesosilganglioside = GM1). Im Unterschied zu dem bei peripheren Nervenerkrankungen angewandten CRONASSIAL soll das Präparat mit der Versuchsbezeichnung GM1 bei Funktionsausfällen des Zentralnervensystems infolge Hirninfarkt oder Trauma in Deutschland an 800 Patienten erprobt werden. Die italienische Produktbeschreibung gibt für SYGEN an, es seien keine unerwünschten Wirkungen für das Gangliosid aus Rinderhirn beschrieben.

Reisende in südlichen Ländern wie Italien, Spanien und Portugal laufen Gefahr, mit dem dort unangefochten auf dem Markt befindlichen CRONASSIAL, NEVROTAL resp. SYGEN behandelt zu werden.

FAZIT: In Anbetracht der Risiken halten wir den sofortigen Abbruch solcher unsinnigen und lebensgefährlichen Experimente an Menschen für notwendig. Wir informierten deshalb sofort das Bundesgesundheitsamt über den Sachverhalt.3 Bis zum Redaktionsschluß hatte es die zuständige Bundesoberbehörde nicht für notwendig erachtet, auf unsere Aufforderung zu reagieren oder die Information an die zuständige bayerische Landesbehörde weiterzuleiten. Dagegen unterrichtet uns die pharmazeutische Überwachung der Regierung von Oberbayern nach direkter Intervention, daß die klinische Prüfung mit GM1 nicht fortgesetzt werde.4

1

Butlleti Groc 3:3 (1990), 12

2

Repertorio Farmaceutico Italiano 1990

3

Antrag vom 9. Jan. 1991

3

Fax-Mitteilung vom 10. Jan. 1991


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