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Im Blickpunkt

LIEFERDEFIZITE BEI ORIGINAL-ARZNEIMITTELN

Zu Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln, insbesondere Generika, siehe a-t 2022; 53: 89-91.

Seit einigen Jahren sind auffällig viele Erstanbieterpräparate („Originale“) zum Teil länger nicht lieferbar. Dabei wäre zu erwarten, dass gerade Erstanbieter ihre meist teuren Präparate so gut wie möglich im Markt verankern und verkaufen wollen, bevor diese nach Patentablauf durch Generika verdrängt werden.

Firmen vernachlässigen allerdings allzu oft, die kontinuierliche Verfügbarkeit ihrer Präparate sicherzustellen. Um Produktionskosten gering zu halten, setzen sie zum Teil weltweit auf lediglich eine Produktionsstätte. Diese Strategie ist bedenklich, da sie mit besonderem Risiko von Lieferengpässen einhergeht, etwa wenn bei der Herstellung etwas schief läuft, Lieferwege blockiert sind oder die Nachfrage schneller steigt als erwartet und die einzige Produktionsanlage bereits am Limit arbeitet.

Boehringer Ingelheim begründet derzeitige Lieferdefizite beim versorgungsrelevanten Thrombolytikum Alteplase (ACTILYSE) sowie bei Tenecteplase (METALYSE) mit steigender Nachfrage bei „maximaler Auslastung der Produktionskapazitäten“.1,2 Eine weitere Produktionsstätte ist erst in Planung (a-t 2022; 53: 44-5). Auch Novo Nordisc hat beim GLP-1-Rezeptoragonisten Semaglutid (OZEMPIC) Probleme wegen unerwartet hoher Nachfrage.3 Diese beruht – eventuell durch das Videoportal TikTok4 beflügelt – anscheinend auch auf der Off-label-Anwendung5 zur Gewichtsreduktion bei Adipositas.* Hinzu kommen „globale Faktoren wie unterbrochene Lieferketten“.3 Für das Immunsuppressivum Belatacept (NULOJIX),7 das Ophthalmikum Verteporfin (VISUDYNE),8 das Antiepileptikum Vigabatrin (SABRIL)9 und den Tyrosinkinasehemmer Vandetanib (CAPRELSA)10 reichen die Produktionskapazitäten derzeit ebenfalls nicht aus. Der bereits seit einem Jahr bestehende „vorübergehende Lieferengpass“ von Vandetanib soll zudem auf einem „unvorhergesehenen Wechsel eines Wirkstofflieferanten“10 beruhen.

*Semaglutid ist in Europa zwar seit Anfang 2022 als WEGOVY in höherer Dosierung als das Antidiabetikum OZEMPIC zur Injektion bei Adipositas zugelassen,6 jedoch bislang in Deutschland nicht im Handel.

Bisweilen ist unzureichende Verfügbarkeit auch Vorbote einer Produktionseinstellung, z.B. bei Parathormon (NATPAR), für das zuerst ein Lieferengpass und später das Produktionsende wegen unüberwindbarer Herstellungsprobleme mitgeteilt wird.11 Ähnlich verläuft es beim Herzglykosid Digitoxin (DIGIMERCK): erst Lieferprobleme, dann Vertriebseinstellung aus wirtschaftlichen Gründen.12,13 Auch das einzige weitere Digitoxin-Präparat, ein Generikum von Teva, ist nicht erhältlich. Lieferengpässe bei Originalpräparaten, deren Patent bereits abgelaufen ist, sind allerdings unproblematisch, solange genügend wirkstoffgleiche Generika im Handel sind. Wenn für bereits jahrzehntelang erhältliche Originale wie SOLU-DECORTIN H 100 (Prednisolon) Produktionsprobleme berichtet werden und gleichzeitig Generika überwiegend lieferbar sind, könnte dies ein Zeichen für mangelnde Wertschätzung des Alt-Originals sein, das nur noch wenig zum Umsatz des Großkonzerns beiträgt, oder Vorbote eines Anbieterwechsels. So sind viele vormals umsatzstarke Originale vom Erstanbieter an Firmen wie Riemser (heute Esteve) weitergereicht worden, zum Beispiel früher häufig verordnete Arzneimittel (Schnelldreher) wie ALDACTONE (Spironolakton), ANAFRANIL (Clomipramin), ISMO (Isosorbidmononitrat) und OSTAC (Clodronat). Das derzeit nicht lieferbare Antiemetikum ZOFRAN (Ondansetron) hat Novartis konzernintern an Hexal abgegeben.

Für die Absicherung der Lieferfähigkeit von patentgeschützten Original-Arzneimitteln sind die pharmazeutischen Unternehmen in die Pflicht zu nehmen. Angesichts der zum Teil extrem hohen Preise sollte genügend Geld dafür zur Verfügung stehen – patentgeschützte Arzneimittel verursachen 52,5% der Gesamtausgaben der GKV für Arzneimittel, machen aber lediglich 6,5% der verordneten Tagesdosierungen aus.14 Das Arzneimittelgesetz fordert für zugelassene Arzneimittel zwar „eine angemessene und kontinuierliche Bereitstellung“,15 doch fehlen Sanktionen bei Nichtbefolgen dieser Verpflichtung (a-t 2015; 46: 81-2).16

1Boehringer Ingelheim: Schreiben vom 15. Aug. 2022; https://a-turl.de/ci9b
2Boehringer Ingelheim: Schreiben vom 23. Sept. 2022; https://a-turl.de/w58e
3NovoNordisk: Schreiben vom 20.Okt. 2022; https://a-turl.de/8fup
4MOLL, D.: DAZ online vom 7. Nov. 2022; https://a-turl.de/rgp9
5DGE: Pressemitteilung vom 4. Nov. 2022; https://a-turl.de/rx36
6EMA: EPAR Übersicht WEGOVY (Semaglutid), Stand 10. März 2022; https://a-turl.de/z5az
7Bristol-Myers Squibb: Schreiben vom 27. Sept. 2022; https://a-turl.de/yd5w
8Cheplapharm: Schreiben vom 6. Sept. 2022; https://a-turl.de/p54j
9AMK: Pharm. Ztg. 2022; 167 (Nr. 32): 66
10Sanofi: Schreiben vom 14. Juli 2022; https://a-turl.de/5p9c
11Takeda: Rote-Hand-Brief vom 4. Okt. 2022; https://a-turl.de/efky
12BAUERSACHS, J. et al.: Die Kardiologie, 17. Nov. 2022 (4 Seiten); https://a-turl.de/f62m
13Merck: Schreiben vom 4. Nov. 2022; https://a-turl.de/xizn
14SCHRÖDER, H. et al.: Arzneimittel-Kompass, Springer Open; Sept. 2022, Seite 227; https://a-turl.de/esav
15AMG § 52b (1); https://a-turl.de/yp38
16DGHO: Pressemitteilung vom 31. Aug. 2015; https://a-turl.de/f9ce

© 2022 arznei-telegramm, publiziert am 16. Dezember 2022

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