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Neu auf dem Markt

PEGINTERFERON BETA-1A (PLEGRIDY) BEI MULTIPLER SKLEROSE

Die Firma Biogen, die bereits mit dem Interferon-beta-1a-Präparat AVONEX sowie mit Dimethylfumarat (TECFIDERA; a-t 2014; 45: 28-9) und Natalizumab (TYSABRI; a-t 2006; 37: 69-71) drei Basismittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) anbietet, bringt seit September 2014 ein weiteres MS-Mittel in den Handel: Peginterferon beta-1a (PLEGRIDY). Das Interferon ist zur Behandlung Erwachsener mit schubförmig remittierender MS zugelassen.1 Peginterferon beta-1a hat dieselbe Aminosäuresequenz wie die Interferon-beta-1a-Präparate AVONEX und REBIF und gilt daher nach der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht als neuer Wirkstoff.2 Eine frühe Nutzenbewertung entfällt somit.3

EIGENSCHAFTEN: Betainterferone wirken immunmodulierend. Zu den biologischen Effekten gehört die Hemmung der Migration aktivierter T-Zellen über die Bluthirnschranke. Der genaue Wirkmechanismus bei MS ist nicht bekannt. Die Konjugation von Interferon beta-1a mit Polyethylenglykol (PEG; "Pegylierung"), bei Alphainterferonen zur Behandlung der Hepatitis C seit Längerem etabliert (a-t 2000; 31: 61-2 und 2002; 33: 84-5), verzögert Abbau und Ausscheidung des Interferons und verlängert die Halbwertszeit.4

Missstände in russischen MS-Studien angeprangert

Die Zahl der russischen Teilnehmer an klinischen Studien zu Arzneimitteln, für die zwischen 2005 und 2011 die Zulassung bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA eingereicht wurde, hat in diesem Zeitraum von 484 um mehr als das Zehnfache auf 6.465 zugenommen.1 Ein Report der Nichtregierungsorganisation "Erklärung von Bern" und ein Beitrag in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" haben Ende 2013/Anfang 2014 auf bedenkliche Zustände in klinischen Studien, konkret in Studien zu MS-Mitteln, in Russland aufmerksam gemacht. Aufgrund von Interviews mit Beteiligten schildern die Zeit-Autorinnen mangelhafte Aufklärung und Betreuung der Patienten, Einschüchterung und Druck von Seiten der Studienärzte, erfundene Patienten, Verschweigen unerwünschter Wirkungen und Ethikkommissionen, die nur auf dem Papier existieren. Begünstigt wird die Verletzung ethischer Standards durch Unterversorgung der Patienten außerhalb klinischer Studien, die sie erpressbar macht, und Unterbezahlung der Ärzte, für die klinische Studien eine wesentliche Einnahmequelle darstellen.2,3 Sollte es sich bei diesen Missständen um mehr handeln als um eklatante Einzelfälle, werden sie durch die Inspektionen westlicher Arzneimittelbehörden offenbar nicht oder nicht ausreichend erfasst: Nach einer Auswertung der öffentlich zugänglichen Ergebnisse von Inspektionen der Studienzentren durch die FDA in Osteuropa im Vergleich zu Westeuropa und den USA zwischen 1994 und 2010 sollen sich keine Hinweise auf häufigere Regelverstöße oder mindere Datenqualität in osteuropäischen Zentren ergeben haben.4 Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die FDA nur einen verschwindend kleinen Teil der Studienzentren inspiziert (1%) und hauptsächlich in den USA selbst (70%).5 Der Anteil der von der EMA inspizierten Zentren war in der Vergangenheit noch geringer (0,5%).1

Die Behörden sind sich der Probleme der zunehmenden Verlagerung klinischer Prüfungen in Schwellenländer durchaus bewusst. Der neue Leiter des BfArM, Karl BROICH, beklagt in einem Interview den Mangel an Inspektoren für die unabhängige Kontrolle vor Ort.6 Auf unsere entsprechenden Anfragen zur zulassungsrelevanten Phase-III-Studie zu Peginterferon beta-1a erhielten wir bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme, -Red.

1 EMA: Clinical trials submitted in marketing-authorisation applications to the European Medicines Agency. Overview of patient recruitment and the geographical location of investigator sites, Dez. 2013
http://www.a-turl.de/?k=alze
2 Erklärung von Bern: Menschliche Versuchskaninchen zum Schnäppchenpreis, Sonderausgabe Sept. 2013
3 AHR, N., HAWRANEK, C.: Eine Überdosis Risiko, ZEIT ONLINE vom 23. März 2014;
http://www.a-turl.de/?k=trul
4 CALDRON, P.H. et al.: Drug Design Develop. Ther. 2012; 6: 53-60
5 LEVINSON, D.R.: Challenges to FDA's ability to monitor and inspect foreign clinical trials, Juni 2010;
http://www.a-turl.de/?k=uhpo
6 BROICH, K.: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10. Aug. 2014

KLINISCHE WIRKSAMKEIT: Für die Zulassung genügte den Behörden in der EU und den USA die Vorlage einer einjährigen randomisierten plazebokontrollierten Phase-III-Studie (ADVANCE5), die ab dem zweiten Jahr ausschließlich mit Peginterferon beta-1a fortgeführt wird.4,6 Da gegen MS wirksame Therapien verfügbar sind, scheint uns das plazebokontrollierte Design in dieser Indikation ethisch nicht mehr vertretbar. Die 1.512 im Mittel 37 Jahre alten Teilnehmer mussten an schubförmig remittierender MS leiden und in den vorausgegangenen drei Jahren mindestens zwei Schübe gehabt haben. Der mittlere EDSS*-Score beträgt bei Studienbeginn 2,46, 29% der Patienten haben einen EDSS-Score von mindestens 3,5, 16% von mindestens 4. Die große Mehrheit (83%) ist trotz dieser Vorgeschichte bislang völlig unbehandelt.4 Dieser erstaunliche Umstand dürfte durch die Studienorte bedingt sein: Nur 11% der Patienten kommen aus Westeuropa oder Nordamerika, die übrigen aus Osteuropa einschließlich Russland (70%), Indien (11%) und - abgesehen von Neuseeland - weiteren Schwellenländern.4 Zur Teilnahme an einer plazebokontrollierten Studie dürften sich unbehandelte MS-Patienten zudem eher gewinnen lassen. Die Schweizer Nichtregierungsorganisation "Erklärung von Bern" und ein Beitrag in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" haben 2013 und 2014 auf bedenkliche Zustände in klinischen Studien zur MS in Russland hingewiesen, die unter anderem aus der Zwangslage der Patienten, die außerhalb von Studien keine spezifische Therapie erhalten, resultieren (siehe Kasten).7,8

* EDSS = Expanded Disability Status Scale: Skala von 0 = normaler neurologischer Befund bis 10 = Tod durch MS (vgl. a-t 2001; 32: 106)

Die jährliche Schubrate (primärer Endpunkt) beträgt unter dem zugelassenen Regime von zweiwöchentlich 125 µg s.c. 0,26 im Vergleich zu 0,40 unter Plazebo (Rate Ratio [RR] 0,64; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,50-0,83). Unter der in einem dritten Arm geprüften nicht zugelassenen vierwöchentlichen Peginterferon-beta-1a-Dosis (125 µg) liegt die Rate bei 0,29 (RR 0,73; 95% CI 0,57-0,93).4,5 Der Einfluss auf das Fortschreiten von Behinderungen ist unter dem zweiwöchentlichen Regime (Hazard Ratio [HR] 0,59; 95% CI 0,36-0,98) auch dann signifikant, wenn die Endpunkt-Definition der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zu Grunde gelegt und über sechs Monate kontrolliert wird, nicht aber unter dem vierwöchentlichen Regime (HR 0,73; 95% CI 0,46-1,18). Da der Endpunkt in der Studie selbst nicht gemäß EMA-Leitlinie definiert war, ist diese Auswertung jedoch post hoc. Einen robusten Nachweis für einen Effekt von Peginterferon beta-1a auf Behinderungen sieht die Behörde daher nicht.4

Direkte Vergleiche mit anderen Basismitteln, insbesondere Betainterferonen, fehlen. Es bleibt daher unklar, ob die Neuerung, die den Vorteil größerer Applikationsintervalle bietet,** den älteren Interferonen überlegen oder auch nur gleichwertig ist.

** Interferon beta-1b (BETAFERON, EXTAVIA) wird alle 2 Tage subkutan gespritzt, das Interferon-beta-1a-Präparat REBIF dreimal wöchentlich s.c., das Interferon-beta-1a-Präparat AVONEX einmal wöchentlich i.m.

UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Das Störwirkungsprofil entspricht dem der nichtpegylierten Betainterferone, mit sehr häufigen grippeähnlichen Symptomen (47% vs. 13% unter Plazebo) und Reaktionen an der Injektionsstelle (66% vs. 11%). Gewarnt wird zudem, zum Teil aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit anderen Betainterferonen, vor Leberschäden, Depression und Suizidalität, Überempfindlichkeitsreaktionen, Herzinsuffizienz und Kardiomyopathie, Abnahme der Blutzellen aller Zelllinien, Krampfanfällen, Schilddrüsenüber- und -unterfunktion sowie nephrotischem Syndrom und thrombotischer Mikroangiopathie in Verbindung mit Peginterferon beta-1a.1,6 Thrombotische Mikroangiopathie ist erst kürzlich als möglicher Klasseneffekt von Betainterferonen erkannt worden (a-t 2014; 45: 56).9,10 Auch der Warnhinweis zu nephrotischem Syndrom ist erst kürzlich in die Fachinformationen älterer Betainterferone aufgenommen worden.10

KOSTEN: Die Kosten für Peginterferon beta-1a (PLEGRIDY) liegen mit 1.806 € pro vier Wochen für 2-wöchentlich 125 µg etwa in der Mitte zwischen den Kosten für die nichtpegylierten Interferon-beta-1a-Präparate AVONEX (1.704 € für wöchentlich 30 µg) und REBIF (1.931 € für dreimal wöchentlich 44 µg).

∎  Das neu zur Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (MS) angebotene Peginterferon beta-1a (PLEGRIDY) senkt die Schubrate gegenüber Plazebo relativ um 35%.

∎  Robuste Belege für einen günstigen Einfluss auf das Fortschreiten von Behinderungen fehlen.

∎  Das Störwirkungsspektrum entspricht dem nichtpegylierter Betainterferone.

∎  Peginterferon beta-1a hat gegenüber den nichtpegylierten Betainterferonen den Vorteil größerer Applikationsintervalle. Ob es den älteren Interferonen hinsichtlich seines Nutzens gleichwertig ist, ist aber mangels direkter Vergleiche unklar.

∎  Patienten, die auf Peginterferon beta-1a wechseln wollen, müssen über die Unsicherheit in der Datenlage aufgeklärt werden.

∎  Die klinische Erprobung von Peginterferon beta-1a im plazebokontrollierten Design im Wesentlichen in Schwellenländern erachten wir ethisch und angesichts unkalkulierbarer Einflussfaktoren durch sozialen und finanziellen Druck als nicht akzeptabel. Die Zulassungsbehörden sind bei der Kontrolle solcher Studienzentren offensichtlich überfordert.

  (R = randomisierte Studie)
1 Biogen: Fachinformation PLEGRIDY, Stand Juli 2014
2 G-BA: Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, Stand 20. März 2014;
http://www.a-turl.de/?k=elba
3 G-BA: Schreiben vom 11. Sept. 2014
4 EMA: Europ. Beurteilungsbericht (EPAR) PLEGRIDY, Stand Mai 2014
http://www.a-turl.de/?k=ggeb
R    5 CALABRESI, P.A. et al.: Lancet Neurol. 2014; 13: 657-65
6 Biogen: US-amerikanische Produktinformation PLEGRIDY, Stand Aug. 2014
7 Erklärung von Bern: Menschliche Versuchskaninchen zum Schnäppchenpreis, Sonderausgabe Sept. 2013
8 AHR, N., HAWRANEK, C.: Eine Überdosis Risiko, ZEIT ONLINE vom 23. März 2014;
http://www.a-turl.de/?k=trul
9 EMA: PRAC recommandations on signals, 24. Febr. 2014
http://www.a-turl.de/?k=sert
10 BfArM: Sicherheitsrelevante Informationen zu Beta-Interferonen: Risiko einer thrombotischen Mikroangiopathie sowie eines nephrotischen Syndroms, 19. Aug. 2014;
http://www.a-turl.de/?k=indb

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 19. September 2014

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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