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Therapiekritik

AKTUELLER STELLENWERT VON BIVALIRUDIN (ANGIOX)

Der Thrombinhemmer Bivalirudin (ANGIOX) ist als Antikoagulans im Rahmen einer perkutanen Koronarintervention (PCI) zugelassen (a-t 2005; 36: 3-4) und hierbei auch bei primärer PCI zur Therapie eines ST-Hebungsinfarktes (STEMI). Zudem kann er unabhängig von der weiter geplanten Therapie bei instabiler Angina pectoris und Nicht-ST-Hebungsinfarkt (IA/NSTEMI) eingesetzt werden.1

In Leitlinien wird Bivalirudin derzeit nur bei primärer PCI wegen eines STEMI empfohlen2,3 oder wenn bei IA/NSTEMI ein invasives Vorgehen geplant ist.4,5 Beim STEMI soll Bivalirudin als Monotherapie, die nur notfalls ("bail-out") durch Glykoprotein-IIb/IIIa-Blocker (Glykoproteinblocker) wie Abciximab (REOPRO) ergänzt wird, anderen Strategien wie unfraktioniertem Heparin in Kombination mit einem Glykoproteinblocker vorgezogen werden (Empfehlungsgrad I; Evidenz-Level B).2,3 Bei IA/NSTEMI sind die Empfehlungen komplexer und weniger klar; hier wird Bivalirudin, das nur bei anhaltender Ischämie oder Eintreten von Komplikationen mit einem Glykoproteinblocker kombiniert wird, lediglich als Alternative zu unfraktioniertem Heparin plus Glykoproteinblocker für die Patienten empfohlen, die dringend oder frühzeitig einer invasiven Therapie bedürfen, vor allem wenn sie gleichzeitig ein hohes Blutungsrisiko aufweisen (Empfehlungsgrad I; Evidenz-Level B). Ob allerdings bei IA/NSTEMI überhaupt Glykoproteinblocker einzusetzen sind, hängt von weiteren Faktoren wie dem koronaren und dem Blutungsrisiko des Patienten, dem geplanten Vorgehen sowie von der Verwendung weiterer Thrombozytenaggregationshemmer ab.4,5

Nach einer aktuellen Metaanalyse von sieben randomisierten Studien reduziert Bivalirudin im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin plus Glykoproteinblocker bei 19.856 Patienten weder die Gesamtmortalität noch die Rate an Infarkten oder erneuten Revaskularisationen innerhalb von 30 Tagen nach PCI.6 Relevante Blutungen gemäß TIMI*-Klassifikation sind unter Bivalirudin zwar signifikant seltener (relatives Risiko [RR] 0,58; 95%-Konfidenzintervall [CI] 0,46-0,74), absolut aber nur um knapp 1%. Zwei der ausgewerteten Studien (HORIZONS-AMI und EUROMAX) prüfen Bivalirudin ausschließlich bei Patienten mit PCI wegen eines STEMI7,8 - der Indikation, in der es unseres Wissens in Deutschland hauptsächlich eingesetzt wird. Auch die separate gepoolte Analyse von HORIZONS-AMI7 und EUROMAX8 mit zusammen 5.820 Patienten ergibt keinen Einfluss auf die Gesamtmortalität oder die Rate an Infarkten oder erneuten Revaskularisationen. Relevante Blutungen sind aber ebenfalls seltener als unter Heparin plus Glykoproteinblocker (RR 0,61; 95% CI 0,45-0,82).6 Allerdings ist die Rate unter Bivalirudin nur in HORIZONS-AMI geringer (3,1% vs. 5,0%; p = 0,002).7 In der aktuelleren EUROMAX treten relevante Blutungen insgesamt seltener auf und unterscheiden sich nicht signifikant (1,3% vs. 2,1%; p = 0,15).8 Zudem sind gesicherte (RR 1,88; p = 0,02) und vor allem akute Stentthrombosen (RR 5,48; p = 0,0001) unter Bivalirudin deutlich häufiger.6 Absolut nehmen sie in beiden Studien etwa um 1% zu.7,8 Beim STEMI scheint danach die Reduktion relevanter Blutungen unter Bivalirudin mit Zunahme bedrohlicher Stentthrombosen erkauft zu werden.6

*  TIMI = Thrombolysis In Myocardial Infarction

Die Bewertung der Studienlage zu Bivalirudin wird dadurch verkompliziert, dass sich die im Rahmen der PCI eingesetzten antithrombotischen Gesamtstrategien zum Teil deutlich unterscheiden. Dies betrifft Art, Zeitpunkt und Dosis der eingesetzten Heparine, welche und wie Glykoproteinblocker gegeben wurden (vor oder erst während der PCI, regelhaft oder optional) und vor allem die begleitende duale Thrombozytenaggregationshemmung. Eine valide Bewertung des Stellenwertes von Bivalirudin als Substanz ist so kaum möglich. Auch in dieser Hinsicht ist eine aktuelle, pragmatisch konzipierte randomisierte Studie aus Liverpool bedeutsam (HEAT-PPCI),9 die in bisherigen Leitlinien und Metaanalysen noch unberücksichtigt ist.

Die HEAT-PPCI-Studie vergleicht Bivalirudin mit unfraktioniertem Heparin bei 1.829 Patienten, die wegen Verdachts auf akuten STEMI zur primären PCI eingewiesen werden.9 Ein Glykoproteinblocker wird in beiden Gruppen leitliniengemäß2 nur bei massiven Koronarthromben, unzureichender Reperfusion oder thrombotischen Komplikationen zusätzlich gegeben, im Mittel bei 14% der Patienten. Mehr als 99% erhalten eine duale Plättchenhemmung mit anfänglicher Loading-Dosis, in über 60% mit Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN, Generika) plus Ticagrelor (BRILIQUE). Innerhalb von 28 Tagen treten unter Bivalirudin signifikant häufiger Komplikationen im Sinne von Todesfällen, Schlaganfällen, Reinfarkten oder erneuten Revaskularisationen des Zielgefäßes auf als unter Heparin (8,7% vs. 5,7%; RR 1,51; 95% CI 1,09-12,13; p = 0,01), vor allem mehr Todesfälle und Reinfarkte. Die Blutungskomplikationen unterscheiden sich nicht signifikant (3,5% vs. 3,1%; RR 1,15; p = 0,59).9

Wenngleich eine eingehende Diskussion in der Literatur aussteht, erscheint die HEAT-PPCI-Studie methodisch valide.10 Ihre Ergebnisse sowie die der EUROMAX-Studie machen eine Neubewertung von Bivalirudin dringend notwendig. Die aktuellen Leitlinienempfehlungen im Sinne einer Präferenz gegenüber Heparinen bei PCI im Rahmen eines STEMI sind kaum mehr haltbar. Aber auch die Empfehlungen zum Einsatz bei IA/NSTEMI erscheinen revisionsbedürftig, da sich auch hier die antithrombotischen Therapiestrategien in den vergangenen Jahren geändert haben.* Wegen der mehrhundertfach höheren Kosten gegenüber unfraktioniertem Heparin ließen sich nicht zuletzt bedeutende Einsparungen erreichen, wenn Kliniken auf den Routineeinsatz von Bivalirudin beim STEMI verzichten - der unseres Wissens in den vergangenen Jahren durch so genannte Registerstudien noch stimuliert wurde.

* Eine bei Redaktionsschluss erschienene Metaanalyse,11 die jetzt auch neben zwei anderen neuen, aber noch nicht vollständig veröffentlichten Studien die HEAT-PPCI-Studie mit auswertet, bestätigt die Vorbehalte gegen Bivalirudin speziell beim STEMI.11,12

∎  Die bevorzugte Empfehlung von Bivalirudin (ANGIOX) als Antikoagulans gegenüber Heparinen bei der perkutanen Koronarintervention im Rahmen eines akuten ST-Hebungsinfarkts in Leitlinien erscheint nach den Ergebnissen aktueller randomisierter Studien nicht mehr haltbar.

∎  Auch der Stellenwert von Bivalirudin bei der Therapie von instabiler Angina pectoris und Nicht-ST-Hebungsinfarkt muss neu bestimmt werden.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 The Medicines Company: Fachinformation ANGIOX, Juni 2014
2 STEG, P.G. et al.: Eur. Heart J. 2012; 33: 2569-619
3 ZEYMER, U. et al.: Kardiologe 2013; 7: 410-422
4 HAMM, C.W. et al.: Eur. Heart J. 2011; 32: 2999-3054
5 ACHENBACH, S. et al.: Kardiologe 2012; 6: 283-301
M     6 NAIROOZ, R.N. et al.: Am. J. Cardiol. 2014; 114: 250-59
R     7 STONE, G.W. et al.: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 2218-30
R     8 STEG, P.G. et a.: N. Engl. J. Med. 2013; 369: 2207-17
R     9 SHAHZAD, A. et al.: Lancet, online publ. am 5. Juli 2014, doi:10.1016/S0140-6736(14)60924-7
10 BERGER, P.B., BLANKENSHIP, J.C.: Lancet, online publ. am 5. Juli 2014, doi:10.1016/S0140-6736(14)61041-2
M  11 CAVENDER, M., SABATINE, M.S.: Lancet 2014; 384: 599-606
12 LINCOFF, A.M.: Lancet 2014; 384: 564-6

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 22. August 2014

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