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Korrespondenz

BISACODYL UND NATRIUMPICOSULFAT ZUR LANGZEITTHERAPIE DER OBSTIPATION?

Die Firma Boehringer Ingelheim wirbt damit, dass gemäß der deutschen S2-Leitlinie zur chronischen Obstipation1 die Biphenole Bisacodyl (DULCOLAX u.a.) und Natriumpicosulfat (LAXOBERAL u.a.) Mittel der Wahl zur sicheren Langzeittherapie (auch über Jahre und Jahrzehnte) seien. Wie ist diese Aussage zu bewerten?

Dr. A. RAVATI (Apotheker)
D-86152 Augsburg
Interessenkonflikt: keiner

1Gemeinsame Leitlinie der Dt. Gesellsch. für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) und der Dt. Gesellsch. für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS): S2k-Leitlinie Chronische Obstipation; Stand Febr. 2013

Eine dauerhafte Einnahme von Laxanzien kann zum Beispiel bei Langzeitgebrauch von Opioiden in der Schmerztherapie notwendig werden (a-t 2005; 36: 27-9). In der angesprochenen S2-Leitlinie1 wird auch der chronischen Obstipation ohne sekundäre Ursachen ein erheblicher Krankheitswert mit Therapienotwendigkeit zugemessen. Neben dem osmotisch wirkenden Macrogol (DULCOLAX M BALANCE u.a.) werden hierfür die "chemischen" Darmstimulanzien Bisacodyl (DULCOLAX u.a.) und das wirkidentische (gleicher aktiver Metabolit) Natriumpicosulfat (LAXOBERAL u.a.) als Mittel der 1. Wahl eingeordnet. Aber auch für die pflanzlichen Anthrachinonderivate wie Senna (Sennoside) oder Aloeextrakt wird in der Leitlinie grünes Licht für die Dauereinnahme gegeben.1 Die von den Autoren angegebenen Quellen,2-6 die die Unbedenklichkeit für Natriumpicosulfat und Bisacodyl im Hinblick auf Elektrolytverschiebungen oder Gewöhnung belegen sollen, sind hierfür jedoch ungeeignet: Zwei der zitierten Arbeiten sind Kurzzeitstudien über vier Wochen2 bzw. einen Tag3 (Vorbereitung für einen diagnostischen Eingriff mit Natriumpicosulfat) ohne Aussagen zur Langzeitsicherheit. Eine weitere Veröffentlichung ist ein narratives Review einer der Leitlinienautoren ohne Originaldaten.4

Die einzigen Langzeitdaten stammen zum einen aus einer wissenschaftlich fragwürdigen Befragung von 100 Patienten mit Querschnittslähmung, die 2 bis 34 Jahre lang zur geregelten Darmentleerung Bisacodyl einnehmen.5 Nach welchen Kriterien die befragten Patienten in die Arbeit eingeschlossen wurden, ist unklar. Zwei Patienten (2%) weisen zum Zeitpunkt der Befragung erniedrigte Kaliumwerte auf. Zum anderen kann auch die Befragung von 35 Frauen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren mit chronischer Obstipation und regelmäßiger Einnahme von Natriumpicosulfat die fehlende Gewöhnung an die Einnahme nicht belegen. 70% der befragten Frauen haben im Verlauf der Behandlung ihre Laxanzien-Wochendosis erhöht.6

Die zitierte Leitlinie besitzt den Status "S2k", wobei das "k" auf einen Konsensprozess bei der Erstellung hinweist. Eine gründliche Recherche zur Evidenz fehlt. Verwiesen wird lediglich auf die Literaturrecherche zu einer publizierten S3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom.7 Dies reicht unseres Erachtens jedoch nicht aus. Empfehlungen auf diesem Niveau bieten keine evidenzbasierte Entscheidungshilfe. Sie werden aber als scheinbare Belege für Nutzen und Sicherheit zu Werbezwecken missbraucht: "Neue deutsche Leitlinie zur chronischen Obstipation: Wirkstoffe von DULCOLAX und LAXOBERAL Mittel der 1. Wahl".8

Die Datenlage zum Langzeitgebrauch von Laxanzien erscheint unbefriedigend. Zwar ist die Gefährlichkeit eines anhaltenden Laxanzienabusus, zum Beispiel bei Essstörungen, Sportlern mit Gewichtszielen oder beim Versuch der Gewichtsabnahme, unbestritten. Schwere Elektrolytstörungen, Nierenschäden und Darmentzündungen sind beschrieben.9 Es fehlen jedoch kontrollierte Studien zur Langzeitsicherheit von Laxanzien bei "bestimmungsgemäßem" Gebrauch.

Experimentelle Hinweise auf ein Schädigungspotenzial durch dauerhafte Einnahme stammen aus älteren Arbeiten, in denen pathologische Veränderungen der Neuronen im Plexus myentericus unter chronischer Einnahme von darmwandreizenden Laxanzien wie Bisacodyl beschrieben wurden, aus denen Gewöhnungseffekte und Verschlechterung einer vorbestehenden chronischen Obstipation resultieren könnten.10,11 Die Einordnung dieser Beobachtungen ist jedoch schwierig, da letztlich unklar bleibt, ob die Befunde Folge der Laxanzieneinnahme oder Ursache der Obstipation sind. Aussagekräftige epidemiologische Studien zu Gewöhnungseffekten finden wir nicht.

Diskutiert werden seit Langem Risikosignale hinsichtlich einer kanzerogenen Wirkung. In tierexperimentellen Untersuchungen zeigten sich für einige Anthrachinonderivate erhöhte Kolonkarzinomraten.12 Epidemiologische Daten zum kanzerogenen Risiko sind jedoch widersprüchlich. Zwar wurde in einer Metaanalyse von 14 älteren Fall-Kontroll-Studien ein signifikant erhöhtes Risiko für das Auftreten kolorektaler Karzinome sowohl bei Langzeiteinnahme von beliebigen Laxanzien als auch bei chronischer Obstipation - mit allerdings für Beobachtungsstudien niedrigem Risikoschätzer (1,46) - errechnet.13 In anderen Fall-Kontroll-Studien konnte kein Zusammenhang zwischen Inzidenz kolorektaler Karzinome und Einnahme von Laxanzien errechnet werden.14-16 In einer Arbeit15 ging auch hier chronische Obstipation per se mit erhöhter Karzinominzidenz einher.

Demgegenüber steht ein Risikosignal für kanzerogene Effekte aus einer deutschen Fall-Kontroll-Studie. Die dauerhafte, mindestens ein Jahr währende Einnahme darmwandreizender Laxanzien wie Bisacodyl oder Anthrachinonderivate war in dieser Arbeit bei Frauen mit einem erhöhten Risiko für Nierenzellkarzinom (Odds Ratio [OR] 1,9) und Karzinome des Nierenbeckens oder Ureters (OR 4,2) verbunden.17 Für Männer ergab sich bei insgesamt gegenüber Frauen geringerem Verbrauch von Laxanzien in dieser Studie kein erhöhtes Risiko. Wir stufen diese Ergebnisse durchaus als relevante Risikosignale ein und halten wie die Autoren weiterführende Studien für erforderlich. Die gesamte Diskussion um die potenziellen kanzerogenen Eigenschaften von Laxanzien wird in der "S2"-Leitlinie hingegen noch nicht einmal erwähnt.

∎  Die Sicherheit der Langzeiteinnahme darmwandreizender Laxanzien ist entgegen entsprechender Statements in einer aktuellen S2k-Leilinie nicht durch gute Evidenz abgesichert.

∎  Risikosignale ergeben sich in einer großen Fall-Kontroll-Studie für eine kanzerogene Wirkung an Nieren und ableitenden Harnwegen. Diesen Risikosignalen wird in der Leitlinie keine Beachtung geschenkt. Ihnen ist bislang nicht durch weitere Studien nachgegangen worden.

∎  Ist eine langfristige Therapie mit Laxanzien erforderlich, halten wir osmotisch wirkende Stoffe wie Macrogol (LAXOFALK, DULCOLAX M BALANCE) für Mittel der 1. Wahl.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 Gemeinsame Leitlinie der DGNM und DGVS: S2k-Leitlinie Chronische Obstipation, Stand Febr. 2013; http://www.a-turl.de/?k=benb
R  2 KIENZLE-HORN, S. et al.: Curr. Med. Res. Opin. 2007; 23: 691-9
3 RYAN, F. et al.: Nurs. Stand. 2005; 19: 41-5
4 MÜLLER-LISSNER, S.A. et al.: Am. J. Gastroenterol. 2005; 100: 232-42
5 RUIDISCH, M.H. et al.: Ärztliche Forschung 1994; 41: 3-8
6 BENGTSSON, M., OHLSSON, B.: Eur. J. Gastroenterol. Hepatol. 2004; 16: 433-4
7 DGNM, DGUS: S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom; Z. Gastroenterol. 2011; 49: 237-93
8 Boehringer Ingelheim: LAXOBERAL-DULCOLAX-Werbung in PZ 2014; 159: 789
9 ROERIG, J.L. et al.: Drugs 2010; 70: 1487-503
10 SMITH, B.: Gut 1968; 9: 139-43
11 RIEMANN, J.F. et al.: Scand. J. Gastroenterol. Suppl. 1982; 71: 111-24
12 MORI, H. et al.: Carcinogenesis 1990; 11: 799-802
M  13 SONNENBERG, A., MÜLLER, A.D.: Pharmacology 1993; 47 (Suppl. 1): 224-33
14 DUKAS, L. et al.: Am. J. Epidemiol. 2000; 151: 958-64
15 ROBERTS, M. et al.: Am. J. Gastroenterol. 2003; 98: 857-64
16 KUNE, G.A.: Z. Gastroenterol. 1993; 31: 140-3
17 BRONDER, E.: Der Laxanzienverbrauch - Zur Methodik der Analyse und Risikobewertung des Abführmittelverbrauchs unter besonderer Berücksichtigung von Wirkstoffveränderungen am Beispiel einer Fall-Kontroll-Studie; Dissertation vom 19. Febr. 2001; Humboldt Universität Berlin

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 22. August 2014

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