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Im Blickpunkt

TRANSPARENZ ADE
... Kehrtwende der EMA bei der Offenlegung von Studiendaten

Seit Jahrzehnten ist gut dokumentiert, dass die veröffentlichten Studien den Kenntnisstand zu Arzneimitteln nicht korrekt vermitteln, zum Teil sogar verfälschen (a-t 2010; 41: 1-3). Beispielsweise folgerten Autoren der schwedischen Arzneimittelbehörde 2003 aus dem Vergleich von Zulassungsunterlagen und tatsächlich veröffentlichten Studien zu Antidepressiva, dass "jegliche Empfehlung eines SSRI auf der Basis veröffentlichter Daten ... auf einer verzerrten Datenlage beruht"1 (a-t 2003; 34: 62-3). Kein Wunder, dass die zu Beginn dieses Jahrzehnts gestarteten Transparenzversprechungen der europäischen Arzneimittelbehörde EMA, vollständigen Zugang zu Studiendaten und den ausführlichen Studienberichten zu gewährleisten, mit viel Lob bedacht wurden. Cochrane-Autoren profitierten nach hartnäckigem Insistieren bereits von der angekündigten Offenheit, die es ermöglichte, eine bislang ungeahnte Datenfülle zu Neuraminidasehemmern wie Oseltamivir (TAMIFLU) auszuwerten - mit nach wie vor vernichtendem Ergebnis für diese Stoffgruppe (a-t 2014; 45: 54-5).

Im April 2014 legte eine EU-Verordnung fest, dass ab 2016 alle relevanten Informationen zu klinischen Studien in einer EU-Datenbank in leicht recherchierbarem Format öffentlich zugänglich sein sollen.2 Vor wenigen Tagen kam der Schock, als deutlich wurde, wie die EMA den zuvor als "proaktives Publizieren" bezeichneten Datenzugang umsetzen will. Die Behörde sieht ein geschlossenes System vor, dessen Zugang eine Vertraulichkeitserklärung voraussetzt. Anschließend darf man sich die Studiendaten am Bildschirm ansehen - aber nicht abspeichern, sichern, ausdrucken oder abfotografieren und auch nicht weitergeben.3 Wissenschaftliches Arbeiten, also auch eine systematische Auswertung, ist - wie soeben auch in Entschließungen des Deutschen Ärztetages formuliert4 - bei derartigen Restriktionen vollkommen unmöglich, zumal Studienberichte tausende Seiten Umfang haben können.

Ob die EMA ein solch absurdes Transparenzmodell von Anfang an vorgesehen hat, sei dahingestellt. Ganz offensichtlich zeichnen sich hier aber Strategien der pharmazeutischen Industrie ab. Bezeichnend ist die Sichtweise des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA), der die Hoffnung äußert, dass die EMA ihre Regelungen möglichst gut mit den schon gültigen Grundsätzen der Industrieverbände harmonisiert.5 Nicht auszuschließen ist auch ein Einfluss über Stefano MARINO, seit Kurzem Chef der Rechtsabteilung der EMA, zuvor bei der Firma Sigma-Tau für den Schutz geistigen Eigentums zuständig und Vorsitzender eines Ausschusses für Warenzeichen bei der EFPIA, dem Dachverband der europäischen Pharmafirmen. Zudem dürften sich einstweilige Verfügungen der US-amerikanischen Firmen AbbVie und InterMune beim Gericht der Europäischen Union 2013 ausgewirkt haben, die verhindern sollten, dass die europäische Behörde Dokumente zu Sicherheit und Wirksamkeit firmeneigener Produkte zugänglich macht.6,7 Assoziationen zu den potenziellen Folgen des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA dürften hier nicht unbegründet sein. Auch hier drohen Klagen US-amerikanischer Firmen, die ihre Vermarktungsinteressen in der EU durchsetzen wollen. AbbVie hat inzwischen auf weitere gerichtliche Schritte verzichtet, nachdem die EMA zugestimmt hat, dass kommerziell relevante Informationen aus den Unterlagen entfernt werden dürfen.6,7

Die jüngsten Pläne der EMA sehen jetzt auch vor, dass Pharmafirmen im Rahmen von Zulassungsanträgen zwei Versionen einreichen können, eine vollständige für die Zulassung durch die Behörde und eine unvollständige für die Öffentlichkeit. Was dabei unter den Tisch fällt, ließe sich dann nicht erkennen. Es können aber sogar Details zum Studiendesign, zur statistischen Analyse und zu Ergebnissen zensiert werden.8 Somit könnten nach den jetzigen Plänen der EMA wesentliche Daten zurückgehalten werden.

In einer gemeinsamen Presseerklärung internationaler Organisationen - darunter der internationale Verband werbungsfreier Arzneimittelzeitschriften ISDB*, dem auch das arznei-telegramm angehört, und das nordische Cochrane Zentrum - erinnern die Autoren daran, dass es sich bei klinischen Studiendaten um öffentliches Gut handelt und nicht um Privatbesitz von Pharmaherstellern. Patienten, die an Studien teilnehmen, gehen für den Fortschritt des medizinischen Kenntnisstandes ein persönliches Risiko ein. Es besteht daher nach der Deklaration von Helsinki die ethische Verpflichtung, die Ergebnisse vollständig und präzise offen zu legen.9

* ISDB = International Society of Drug Bulletins

Die mit Vorschusslorbeeren bedachten Transparenzversprechungen der europäischen Arzneimittelbehörde EMA sollen offensichtlich an Erwartungen der pharmazeutischen Industrie angepasst werden. Breite Proteste gegen die im Sinne des freien Zugangs zu klinischen Studiendaten geradezu grotesken Pläne der Behörde können hoffentlich noch ein Umdenken bewirken.

1 MELANDER, H. et al.: BMJ 2003; 326: 1171-3
2 European Parliament legislative resolution of 2 April 2014 on the proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on clinical trials on medicinal products for human use;
http://www.a-turl.de/?k=arsb
3 IQWiG: Pressemitteilung vom 27. Mai 2014;
http://www.a-turl.de/?k=eihe
4 Entschließungen zu Anträgen von NIEBLING, W.B. et al. und JONITZ, G. et al. (VII - 85 und VII - 86): Deutscher Ärztetag Düsseldorf, 27.-30. Mai 2014
5 VfA: Bereitstellung von Studiendaten. Pressemitteilung vom 22. Mai 2014
http://www.a-turl.de/?k=empl
6 TORJESEN, J.: BMJ 2014; 348: g3432 (2 Seiten)
7 DYER, C.: BMJ 2014; 348: g2632 (1 Seite)
8 GROVES, T., WEBER, W.: BMJ 2014; 348: g3561 (2 Seiten)
9 Association Internationale de la Mutualité (AIM) et al.: Presseerklärung vom 20. Mai 2014;
http://www.a-turl.de/?k=msba

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 6. Juni 2014

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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