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Therapiekritik

MEHR SCHADEN ALS NUTZEN
...Hydroxiethylstärke bei kritisch Kranken

Nach einer weltweiten Erhebung zur Volumenersatztherapie auf Intensivstationen wurden im Jahr 2007 kolloidale Infusionslösungen – bei großen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern – insgesamt häufiger verwendet als kristalloide. Unter den kolloidalen Lösungen dominierte damals auch hierzulande Hydroxiethylstärke (HES; HAES STERIL u.a.).1 Bereits 2001 und 2008 zeigte sich in randomisierten Studien mit höhermolekularer HES-Lösung (200 kD) bei schwerer Sepsis ein signifikant erhöhtes Risiko für akutes Nierenversagen im Vergleich mit anderen Lösungen wie Ringerlaktat.2,3 2012 wurden drei Studien mit insgesamt 8.000 Patienten publiziert, die alle auf ein nierentoxisches Potenzial auch von niedermolekularer HES-Lösung (130 kD) bei Sepsis- bzw. Intensivpatienten hinweisen.4-6 In einer der drei Studien nehmen sowohl Dialyserisiko als auch Mortalität unter HES 130 signifikant zu.4

Jetzt erscheinen gleichzeitig drei systematische Übersichten mit Metaanalysen randomisierter Studien, in denen HES mit anderen Infusionslösungen bei kritisch Kranken verglichen wird.7-9 Zwei werten ausschließlich Studien zu niedermolekularer HES 130 aus,8,9 eine bezieht auch Untersuchungen mit HES 200 oder noch höherem Molekulargewicht ein.7* Zwei Auswertungen betrachten nur Sepsispatienten,8,9 eine ein breiteres Spektrum kritisch kranker Patienten.7 Nach beiden Metaanalysen zu niedermolekularer HES bei Sepsis nimmt das relative Dialyserisiko unter der Stärke signifikant um 25% bis 40% zu. Eine der beiden Arbeiten errechnet zudem einen signifikanten Anstieg der Mortalität (Relatives Risiko [RR] 1,13; 95% Konfidenzintervall [CI] 1,02-1,25). Auch in der zweiten Metaanalyse zu HES 130 ergibt sich ein signifikanter Anstieg der Sterblichkeit, wenn in einer nachträglichen Auswertung nur Studien mit längerer Nachbeobachtung (mehr als vier Wochen) ausgewertet werden (RR 1,11; 95% CI 1,01-1,22).8

Die dritte systematische Übersicht, die Studien zu den älteren höhermolekularen HES-Lösungen mit auswertet, erfasst aus diesem Grund auch sieben Untersuchungen von Joachim BOLDT et al.7 Dem Anästhesisten BOLDT wird wissenschaftliches Fehlverhalten und Forschungsbetrug vorgeworfen. Die Vorwürfe, die eine unabhängige Untersuchungskommission als erwiesen ansah, führten zum Rückruf einer Vielzahl von Studien dieses Autors, allerdings nur für den Zeitraum ab 1999, auf den die Überprüfung auf wissenschaftliches Fehlverhalten beschränkt war (vgl. a-t 2013; 44: 12).11,12 Während sich bei Metaanalyse der sieben BOLDT-Arbeiten, deren Vertrauenswürdigkeit unklar ist, kein Hinweis auf Übersterblichkeit unter HES ergibt (RR 0,91; 95% CI 0,74-1,12), nimmt die Mortalität bei gemeinsamer Auswertung der übrigen Studien unter HES signifikant zu (RR 1,09; 95% CI 1,02-1,17). Da zudem zwischen diesen beiden Studiengruppen eine deutliche Heterogenität besteht, schließen die Autoren die BOLDT-Arbeiten von allen weiteren Analysen aus. Wie in den beiden anderen Metaanalysen findet sich auch in der dritten ein signifikant erhöhtes Dialyserisiko unter HES (RR 1,32; 95% CI 1,15-1,50).7 Alle drei Übersichten errechnen zudem einen signifikanten Anstieg des Transfusionsrisikos unter Stärke (relativ um 20% bis 40%).7-9 Nach einer der drei Arbeiten nehmen auch schwerwiegende unerwünschte Effekte insgesamt unter HES signifikant zu (RR 1,30; 95% CI 1,02-1,67).8

Die Leitlinie der deutschen Sepsis-Gesellschaft rät seit 2010 von der Verwendung auch von niedermolekularer HES ab,13 ebenso die Anfang des Jahres publizierte aktualisierte Leitlinie der internationalen Surviving Sepsis Campaign.14 Da die negative Nutzen-Schaden-Bilanz nicht auf Sepsispatienten beschränkt ist,7 sollte HES unseres Erachtens als Volumenersatz bei kritisch Kranken beim derzeitigen Kenntnisstand gar nicht mehr verwendet werden.

∎  Hydroxiethylstärke (HES; HAES STERIL u.a.) erhöht als Volumenersatz bei kritisch Kranken nach mehreren aktuellen systematischen Übersichten randomisierter Studien das Dialyse- sowie das Transfusionsrisiko im Vergleich mit anderen Lösungen. Auch von einer Zunahme der Sterblichkeit ist auszugehen.

∎  Die negative Nutzen-Schaden-Bilanz gilt auch für niedermolekulare Produkte.

∎  Wir raten vom Gebrauch von HES als Volumenersatz bei kritisch Kranken ab.

  (R =randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
1 FINFER, S. et al.: Crit. Care 2010; 14: R185 (12 Seiten)
R  2 SCHORTGEN, F. et al.: Lancet 2001; 357: 911-6
R  3 BRUNKHORST, F.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 125-39
R  4 PERNER, A. et al.: N. Engl. J. Med. 2012; 367: 124-34
R  5 MYBURGH, J.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2012; 367: 1901-11
R  6 GUIDET, B. et al.: Crit. Care 2012; 16: R94 (10 Seiten)
M  7 ZARYCHANSKI, R. et al.: JAMA 2013; 309: 678-88
M  8 HAASE, N. et al.: BMJ 2013; 346: f839 (12 Seiten)
M  9 PATEL, A. et al.: Intensive Care Med., online publ. am 22. Febr. 2013; doi10.1007/s00134-013-2863-6 (11 Seiten)
M  10 GATTAS, D.J. et al.: Intensive Care Med., online publ. am 14. Febr. 2013; doi10.1007/s00134-013-2840-0 (11 Seiten)
11 Editors-in-Chief Statement Regarding Published Clinical Trials Conducted without IRB Approval by Joachim Boldt, 2. März 2011 http://www.oxfordjournals.org/our_journals/ bjaint/eic%20joint%20statement%20on%20retractions.pdf
12 Klinikum Ludwigshafen: Klinikum stellt Ergebnisse des Abschlussberichtes vor: Kommission beendet Untersuchungen im Falle Herr Dr. Boldt, 9. Aug. 2012; http://www.klilu.de/content/veranstaltungen___presse/pressearchiv /2012/klinikum_stellt_ergebnisse _des_abschlussberichts_vor_kommission_beendet_untersuchungen_ im_falle_herr_dr_boldt/index_ger.html
13 Deutsche Sepsis-Gesellschaft et al.: Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis, Stand Feb. 2010;
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/079-001l _S2k_Sepsis_Leitlinientext_01.pdf
14 DELLINGER, R.P. et al.: Intensive Care Med. 2013; 39: 165-228

* Eine vierte aktuelle Metaanalyse bezieht auch Studien ein, in denen niedermolekulare HES mit höhermolekularer verglichen wird, und scheint uns daher nicht hinreichend aussagekräftig, kommt aber ebenfalls zu ungünstigen Ergebnissen für HES.10

© 2013 arznei-telegramm, publiziert am 15. März 2013

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