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                            a-t 2012; 43: 89-90nächster Artikel
Im Blickpunkt

SCHROTT MIT CE-ZEICHEN -
MEDIZINPRODUKTE IN EUROPA

Während die CONTERGAN-Katastrophe zu einem grundlegend neuen Arzneimittelgesetz geführt hat, blieben die tausendfachen Schäden durch minderwertige Silikonbrustimplantate der Firma PIP (a-t 2012; 43: 1-2) und durch Metall-Metall-Hüftendoprothesen der Firma Depuy (a-t 2012; 43: 32) ohne relevante Folgen für die Medizinproduktegesetzgebung. Ein Systemwechsel sei nicht vorgesehen, war aus dem Bundesministerium für Gesundheit zu hören.1

Grundlegende strukturelle Veränderungen sind jedoch überfällig. Dies machen jetzt Untersuchungen investigativer Journalisten des britischen Ärzteblattes BMJ und des Daily Telegraph deutlich. Sie stellten 14 vorwiegend osteuropäische Benannte Stellen auf die Probe. Das sind privatwirtschaftliche Institute, die Medizinprodukte für den Raum der EU zertifizieren.* Die Reporter gaben sich als Repräsentanten einer fiktiven chinesischen Firma aus, die eine große Hüftendoprothese mit Metall-Metall-Gleitpaarung in Europa vertreiben will. Das 70-seitige Dossier, das sie für die Zertifizierung des fiktiven Gelenkersatzes erstellt haben, orientiert sich bewusst an der DePuy-Prothese ASR XL. Diese musste 2010 wegen inakzeptabel hoher Revisionsraten und Freisetzung von toxischen Metallionen weltweit aus dem Handel gezogen werden.2,3 Die eingereichten Unterlagen beschreiben solche und weitere relevante Mängel des ausgedachten Produktes - etwa Bewegungseinschränkungen, die größer sind als bei anderen derzeit verwendeten Implantaten.2

Wer angesichts der Beschreibung einer solchen bedenklichen Prothese erwartet, dass die Anträge negativ beschieden wurden, wird mit der europäischen Zertifizierungsrealität konfrontiert: Lediglich 4 der 14 aufgesuchten Benannten Stellen äußern Bedenken gegen die Zertifizierung. Mitarbeiter betonen zum Teil sogar, dass Zertifizierungen in ihrem Haus zu 100% erfolgreich seien.4 Das Implantat selbst müssen die Undercover-Journalisten nicht präsentieren. Und statt klinischer Studien reicht eine Literatur-Auswertung zu ähnlichen bereits vermarkteten Prothesen.5

Benannte Stellen dürfen nach EU-Recht die Antragsteller nicht direkt beraten, wie sie ein Produkt zertifizieren lassen können. Dennoch werden ungeniert Beratungen oder sogar Schlupflöcher für einen vollen Service angeboten, etwa über Filialen in Seoul (Südkorea) oder Hongkong. Dort laufen Beratung, Zertifizierung und Vermarktung auch für den europäischen Raum zum Teil in Personalunion zusammen.4

Die Bearbeitung der Unterlagen soll je nach Benannter Stelle zwischen 2.075 € und 50.000 € kosten, gegebenenfalls plus Zusatzkosten. Die vierfach höheren Kosten der Zertifizierung in Seoul im Vergleich zur gleichen Firma in Tschechien begründet ein Mitarbeiter in Südkorea mit einer 100%igen Erfolgsrate. Ein Preisaufschlag von 20% soll zudem die Bearbeitung beschleunigen.2

Insgesamt wird deutlich, dass die Zertifizierer untereinander in Bezug auf Preis, Schnelligkeit und Erfolgsraten in Konkurrenz stehen und die Bearbeitungsqualität sehr unterschiedlich ist. Dies macht einen bedenklichen systematischen Mangel des EU-Zertifizierungssystems deutlich: Die kommerziellen Benannten Stellen werden direkt von den Firmen bezahlt, deren Produkt sie bearbeiten. Ein Repräsentant eines tschechischen Zertifizierers erklärt, dass dieser "auf der Seite der Hersteller und ihrer Produkte und nicht auf der Seite der Patienten"5 stehe. Verbraucherschutz steht also hinten an.

Während in den USA eine zentrale Behörde, die FDA, Medizinprodukte lizenziert, setzt Europa weiterhin auf die Vielzahl intransparent arbeitender privater Benannter Stellen, unter denen die Anbieter frei wählen können ("forum shopping"5). Die meisten Zertifizierer mögen kompetent sein, Toaster, Gehhilfen oder sonstige Produkte zu zertifizieren und ein CE-Zeichen zu vergeben, das die Vermarktung in ganz Europa ermöglicht. Für invasive und risikoreiche Klasse-III-Medizinprodukte wie künstliche Gelenke, Brustimplantate oder Herzklappen verbietet sich das derzeitige dezentrale europäische System jedoch, da die inkompetentesten und korruptesten Benannten Stellen Patienten in ganz Europa gefährden. Beim jetzigen System kann daher dem CE-Zeichen nicht vertraut werden.

Die von der EU im September 2012 vorgelegten Neuregelungen für Medizinprodukte werden an all dem nichts ändern. Verbraucherschutz steht auch hier nicht auf der Agenda: Weder sind einheitliche Überprüfungen der Arbeit der privaten Benannten Stellen vorgesehen noch eine zentrale Zulassung von Medizinprodukten. Die Anbieter müssen sich auch künftig weder gegen Produktschäden haftpflichtversichern noch Studien vorlegen, die den Nutzen und die Sicherheit der Medizinprodukte belegen. Und nach wie vor bleibt im Falle einer Schädigung die Beweislast beim Patienten.

∎  Das derzeitige System der Zertifizierung von Medizinprodukten schützt die Menschen in Europa nicht vor riskanten Produkten. Selbst bei erkennbar schwerwiegenden Risiken, die bereits zu Marktrücknahmen vergleichbarer Produkte führten, haben einige der privatwirtschaftlichen Zertifizierer keine Skrupel, invasive Medizinprodukte per CE-Zeichen für den gesamten europäischen Raum freizugeben.

∎  Ein grundlegender Umbau des Zertifizierungssystems ist dringend erforderlich. Zumindest Medizinprodukte der Klasse III sollten zum Schutz der Patienten zentral von einer europäischen Behörde zugelassen werden.

1 CONZE, S. (Bundesgesundheitsministerium), zit. nach HIBBELER, B., KRÜGER-BRAND, H.E.: Dtsch. Ärztebl. 2012; 109: A690-3
2 COHEN, D.: BMJ 2012; 345: e7090 (5 Seiten)
3 COHEN, D.: BMJ 2012; 345: 7163 (2 Seiten)
4 COHEN, D.: BMJ 2012; 345: e7225 (2 Seiten)
5 COHEN, D.: BMJ 2012; 345: e7173 (2 Seiten)

* Benannte Stellen: Derzeit sind 80 Firmen, so genannte Benannte Stellen, von EU-Mitgliedsstaaten bzw. der EU-Kommission benannt (akkreditiert). Im Rahmen eines Konformitätsbewertungsverfahrens zertifizieren diese für den EU-Raum vorgesehene Produkte. Die Benannten Stellen können ihre Tätigkeit auch in Drittländern außerhalb der EU ausüben. Hersteller können frei wählen, bei welcher Benannten Stelle sie ihr Produkt zertifizieren lassen.

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 9. November 2012

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