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Im Blickpunkt

KRIMINELL PRODUZIERTE SILIKONKISSEN
… Marktzugang und Kontrolle von Medizin­produkten müssen dringend verschärft werden

Derzeit läuft ein Lehrstück zum Thema Medizinprodukte, das sich jedoch für hunderttausende Frauen in mehr als 65 Ländern zum Albtraum entwickelt. Jahrelang konnte die Firma Poly Implants Prothèse (PIP) in La Seyne-sur-Mer (Frankreich) ungehindert Silikon-Brustimplantate* produzieren und verkaufen, die billiges Industriesilikon enthalten, das sich allenfalls für Matratzen und Dichtmaterial eignet. Dass die US-amerikanische Behörde FDA die Firma PIP nach Inspektion bereits im Jahr 2000 wegen gravierender Verstöße gegen Produktionsregeln abgemahnt und die dort hergestellten und in die USA gelieferten Kochsalzimplantate beanstandet hat,1 führte nicht zu intensiverer Überwachung des Betriebs. Erst im Sommer 2010, nach kumulierenden Hinweisen an die französische Behörde afssaps über gerissene Silikon-Implantate und einer von ihr veranlassten Inspektion der Firma, stoppte die Behörde den Vertrieb der Brustkissen. Um billig zu produzieren, hat PIP nach eigenen Angaben etwa drei Viertel der Brustimplantate mit dem minderwertigen Silikon gefüllt. Deren uneinheitliche Qualität fiel auf: Nach vorläufigen Erkenntnissen aus Auswertungen von Operateuren schätzt die französische Behörde die Häufigkeit gerissener Implantate auf bis zu 10% innerhalb eines Jahres, Sickern bzw. Ausschwitzen des Gels durch die Hülle auf bis zu 11%.2 Ausgetretenes Silikon verursacht Entzündungen, Schwellungen und Knoten, die Krebsangst schüren können, sowie Schmerzen im Brust- und Achselbereich.

Wegen ihres niedrigen Preises fanden PIP-Implantate breite Akzeptanz: Weltweit verkaufte die Firma zwischen 300.000 und 500.000 Stück, vor allem in Westeuropa und Südamerika. Die USA blieben ausgespart, weil dort die Zulassungsbehörde FDA zwischen 1992 und 2006 Silikonimplantate wegen Sicherheitsbedenken nicht für Schönheitsoperationen zugelassen hatte. Konkrete Daten zum Schädigungspotenzial der PIP-Implantate gibt es bislang lediglich aus Frankreich: Bis Ende 2011 wurden bei 1.143 (3,8%) Frauen mit PIP-Implantaten Risse in den Silikonkissen festgestellt, bei 495 (1,7%) entzündliche Reaktionen.3 20 Französinnen sind an Krebs erkrankt, überwiegend an Brustkrebs und Lymphomen.3 Die Kausalität ist nicht gesichert. Hinweise auf anaplastische großzellige Lymphome in Verbindung mit Silikonimplantaten unterschiedlicher Produktion gehen jedoch bereits aus Daten der US-amerikanischen FDA hervor (a-t 2011; 42: 62-3). Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat bislang Kenntnis von 25 gerissenen PIP-Implantaten. Die Behörde tappt jedoch im Dunkeln, wie viele PIP-Brustkissen hierzulande überhaupt implantiert wurden.4 Wahrscheinlich sind es viele tausend.

Schadensbegrenzung ist angesagt - international allerdings mit unterschiedlichen Strategien. Das französische Gesundheitsministerium rät allen Frauen zum "vorbeugenden, aber nicht dringlichen" Austausch der Brustkissen.5 Von 672 in Frankreich prophylaktisch entfernten Implantaten erwiesen sich immerhin 23 als gerissen und 14 als undicht.5 In Großbritannien6 wird hingegen nicht generell zum Austausch geraten, sondern zu engmaschigen Kontrollen. Die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen moniert, dass Routineprüfungen der Implantate mit bildgebenden Verfahren Frauen in falscher Sicherheit wiegen können. Angesichts des "Ausschwitzens" von Silikon und der kaum bekannten Toxizität des Industriesilikons seien solche Untersuchungen zwecklos und "die Indikation zur Entfernung noch stärker gegeben".7 Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das sich noch zwei Wochen zuvor gegen eine pauschale Empfehlung zum Austausch der Implantate ausgesprochen hat,8 ändert am 6. Januar 2012 seine Strategie. Es empfiehlt seitdem, die Implantate vorsichtshalber zu entfernen, weil Silikon aus PIP-Implantaten auch ohne Rissbildung "vermehrt und im Zeitverlauf zunehmend austreten (,ausschwitzen') kann".9

Ist ein Brustkissen aufgrund einer Erkrankung implantiert worden, übernehmen die Krankenkassen die Kosten des operativen Austausches. Bei Implantaten aus rein kosmetischen Gründen müssen die Frauen einen Eigenanteil übernehmen,10 der bei etwa 50% der Kosten liegen dürfte. Unseres Erachtens sollten sich auch die beteiligten Operateure bzw. Kliniken mit deutlichen Preisnachlässen an den Folgekosten beteiligen. Die Allianz, der ehemalige Versicherer von PIP, lehnt eine Übernahme von Kosten ab, da gezielter Betrug vorliegt.11 Die 1999 gegründete Firma PIP ist längst konkurs.

Angesichts des Ausmaßes des Brustkissenskandals sind dringend strukturelle Änderungen erforderlich. Die großen Arzneimittelkatastrophen in den 1960er Jahren wie CONTERGAN und MENOCIL haben seinerzeit wesentlich die Arzneimittelgesetzgebung beeinflusst. Entsprechend sollte jetzt das Medizinproduktegesetz im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes verschärft werden. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Implantate, die ein Leben lang im Körper verbleiben sollen, keiner systematischen zentralen Sicherheitsprüfung unterliegen. Bislang können sich die Hersteller aussuchen, durch welche der rund 80 europäischen privaten Prüfinstitute ("benannte Stellen") sie ihre Medizinprodukte zertifizieren lassen. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass beispielsweise osteuropäische Institute die Vorgänge "weniger bürokratisch" bearbeiten - und für Firmen zum Teil erheblich billiger.12 Aber selbst wenn Institute wie der TÜV Rheinland die CE-Kennzeichnung vergeben haben, wie im Falle der PIP-Implantate, bedeutet dies keine Qualitätsgarantie. So hat sich der TÜV lediglich Produktunterlagen angesehen, aber nicht die Implantate oder das verwendete Silikon selbst geprüft. Kontrollen der Produktionsstätte wurden zudem der Firma vorher mitgeteilt. Dieses Verfahren hat PIP Zeit gegeben, den Prüfern "stets das korrekte Silikon und die korrekten Dokumente"13 zu präsentieren, während die Produktion tatsächlich mit Billigsilikon lief. Die Möglichkeit von unangemeldeten Besichtigungen oder Kontrollanalysen - einfache Mittel gegen kriminelle Manipulationen - hat der TÜV nicht genutzt.

Frauen sollen heutzutage nach der OP einen Implantatpass erhalten. Im Falle eines Produktfehlers müssen sie jedoch meist selbst aktiv werden, vorausgesetzt sie erfahren überhaupt davon und haben den Pass noch in ihren Unterlagen. Transparenz ließe sich durch ein zentrales Implantatregister schaffen, in denen Medizinprodukte, die langfristig im Körper bleiben (z.B. Brust- und Gelenkimplantate, Herzschrittmacher u.a.), routinemäßig erfasst werden müssen. Obligatorische Register sollten schleunigst etabliert werden. Sie erscheinen uns als eine wesentliche Voraussetzung, den sich ständig wandelnden Markt von Implantaten im Interesse der Patienten überschaubar zu halten. Register geben im Fall von Produktfehlern rasch verwertbare Informationen und eignen sich zudem für wissenschaftliche Auswertungen, beispielsweise zur vergleichenden Beurteilung der Haltbarkeit.

∎  Die französische Firma PIP hat international mehrere hunderttausend Silikon-Brustimplantate verkauft, die aus Gründen des Profits zum überwiegenden Teil mit minderwertigem Industriesilikon gefüllt sind, auffällig häufig reißen, oft Silikon abgeben ("ausschwitzen") und die die Trägerinnen gefährden. Krebs als Anwendungsfolge lässt sich nicht ausschließen.

∎  Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat keinen Überblick, wie viele Frauen in Deutschland betroffen sind. Die Behörde empfiehlt inzwischen, PIP-Implantate vorsichtshalber zu entfernen.

∎  Statt Zertifizierung durch private Institute erscheint - analog zu Arzneimitteln - eine behördliche Zulassung von Medizinprodukten auf der Basis einer systematischen zentralen Sicherheitsprüfung überfällig.

∎  Bereits kurzfristig realisierbare einfache Maßnahmen wie unangekündigte Kontrollinspektionen der Herstellerbetriebe dürften die Wahrscheinlichkeit von Unregelmäßigkeiten und kriminellen Machenschaften verringern.

∎  Alle Implantat-Operationen sollten in zentralen Registern erfasst werden, um im Falle von Produktfehlern verwertbare Informationen zur Risikoabwehr zu haben.

1 YUKHANANOW, A.: Insight: FDA warned PIP on breast implant safety in 2000, Reuters 17. Dez. 2011
http://ca.reuters.com/article/topNews/idCATRE7BQ03M20111227?sp=true
2 afssaps: Résultats des tests complémentaires sur les Implants mammaires à base de gel de silicone de la société Poly Implant Prothèse,
Pressemitteilung vom 14. Apr. 2011
3 afssaps: Synthèse des données d'incidents déclarés chez les femmes porteuses d'implants PIP, 28. Dez. 2011
4 BfArM: Schreiben vom 5. Jan. 2011
5 Ministère du travail de l'emploi et de la santé, Pressemitteilung vom 23. Dez. 2011
6 O'DOWD, A.: BMJ 2012; 344: e11 (3. Jan. 2012)
7 Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen: Pressemitteilung vom 6. Jan. 2012
8 BfArM: Empfehlungen des BfArM für Patientinnen mit PIP-Brustimplantaten, Pressemitteilung 11/11 vom 23. Dez. 2011
http://www.bfarm.de/DE/BfArM/Presse/mitteil2011/pm11-2011.html
9 BfArM: Entfernung der PIP- und ROFIL-Brustimplantate als Vorsichtsmaßnahme empfohlen, Pressemitteilung 01/12 vom 6. Jan. 2012
http://www.bfarm.de/DE/BfArM/Presse/mitteil2012/pm01-2012.html
10 GKV Spitzenverband, Meldung vom 8. Jan. 2012
11 SCHLINGENSIEPEN, I., KRIEGER, F. : Financial Times Deutschland vom 4. Jan. 2012
12 SPIELBERG, P.: Dtsch. Ärztebl. 2009; 106: A1602-3
13 TÜV Rheinland zu Medienberichten über Poly Implant Prothèse (PIP), Pressemitteilung vom 29. Dez. 2011

* Von der niederländischen Firma Rofil Medical auch als ROFIL-Implantate angeboten.

© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 13. Januar 2012

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