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Therapiekritik

IGEL AUF DEM PRÜFSTAND
… Screening auf Glaukom, Ovarial- und Endometriumkarzinom ohne belegten Nutzen

So genannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sind ärztliche Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro haben Patienten 2010 dafür ausgegeben. Nach einer Definition der Bundesärztekammer sollten IGeL aus ärztlicher Sicht notwendig oder empfehlenswert, zumindest aber vertretbar sein und vom Patienten ausdrücklich gewünscht werden.1 Patienten können in der Regel nicht beurteilen, ob GKV-Leistungen ausreichen oder ob IGeL für sie von Nutzen sind. Daten zur Bewertung von Qualität und Angemessenheit der Angebote, die sich vielfach an gesunde Menschen ohne erhöhtes Risiko richten, fehlen.2

Autoren des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) überprüfen jetzt in einem mit Bundesmitteln finanzierten HTA*-Bericht2 die Evidenz für die klinische Effektivität der meistgenutzten IGeL. Die häufigsten Angebote beziehen sich nicht auf nahe liegende Nicht-GKV-Leistungen, beispielsweise aus dem Bereich der Reise- und Sportmedizin, sondern auf Augeninnendruckmessungen (bis zu 40%) und Ultraschalluntersuchungen (bis zu 25%). Nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) von 20043 ist allgemeines Glaukomscreening wegen unklarer Datenlage, beispielsweise zur Auswirkung auf das Erblindungsrisiko, nicht im Leistungskatalog der GKV enthalten. Zum Screening auf Ovarial- und Endometriumkrebs per vaginalem Ultraschall (VUS) gibt es bislang keinen Beschluss des G-BA. Gynäkologische und onkologische Fachgesellschaften sind sich in ihren Leitlinien aber einig, dass allgemeines Screening auf diese Karzinome derzeit nicht empfohlen werden kann.4-7 Auch die Autoren des aktuellen HTA-Berichtes finden nach Auswertung von systematischen Übersichten, HTA-Berichten und aktuellen Primärstudien keine Evidenz für einen patientenrelevanten Nutzen des Glaukom- oder VUS-Screenings. Für das VUS-Screening sehen sie jedoch potenzielle Schäden, beispielsweise durch Überdiagnosen, die unnötige invasive Eingriffe zur Folge haben.2

Daten zur Mortalität bei VUS-Screening standen für den HTA-Bericht noch nicht zur Verfügung. Eine randomisierte kontrollierte Studie8 mit 78.000 US-amerikanischen Frauen zwischen 55 und 74 Jahren ist jedoch aktuell veröffentlicht. Demnach lässt sich für jährliches Screening auf den Tumormarker Cancer-Antigen 125 (CA-125) über sechs Jahre und jährlichen vaginalen Ultraschall über vier Jahre bei 10,9- bis 13-jähriger Nachbeobachtung im Vergleich zur üblichen ärztlichen Betreuung nicht nur kein günstiger Einfluss auf die Sterblichkeit durch Ovarialkrebs nachweisen, sondern die Mortalität durch dieses Karzinom nimmt numerisch sogar zu (Relatives Risiko 1,18; 95% Konfidenzintervall 0,82-1,71). Eine Erklärung für diese Tendenz fehlt. Falschpositive Befunde bei 8,4% (3.285 von 39.105) der Frauen mit Screening, davon 60% aufgrund falsch-positiver Ultraschallbefunde, führen jedoch bei 0,4% (n = 163) bei nachfolgenden Maßnahmen zu mindestens einer schwerwiegenden Komplikation.8

∎  Für die am häufigsten angebotenen IGeL, allgemeines Screening auf Glaukom, Ovarial- und Endometriumkarzinom, fehlen Belege für einen patientenrelevanten Nutzen.

∎  Screening auf Ovarialkarzinom führt nach einer aktuellen Studie sogar zu vermehrtem Schaden gegenüber üblicher ärztlicher Betreuung.

∎  Von einem allgemeinen Screening auf Glaukom, Ovarial- oder Endometriumkarzinom ist daher abzuraten.

∎  Eine systematische Überprüfung weiterer häufig genutzter IGeL erscheint uns dringend geboten.

  (R =randomisierte Studie)
1 Bundesärztekammer: Beschlussprotokoll des 109. Deutschen Ärztetages vom 23.-26. Mai 2006 in Magdeburg
http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Beschluss109DAET.pdf
2 SCHNELL-INDERST, P. et al.: Individuelle Gesundheitsleistungen, HTA-Bericht, Bd. 113, DIMDI, Köln 2011
http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta280_bericht_de.pdf
3 G-BA: Beschluss vom 21. Dez. 2004;
http://www.g-ba.de/downloads/40-268-32/2004-12-21-Glaukom-Begruendung.pdf
4 Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie e.V.: Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie maligner Ovarialtumoren, Stand Juni 2011
http://www.ago-online.de/_download/unprotected/ovar_empfehlungen_maligner_tumoren_de_11.pdf
5 Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Diagnostik und Therapie maligner Ovarialtumoren, Stand Mai 2007;
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/032-035.pdf
6 Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie e.V.: Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie des Endometriumkarzinoms, Stand April 2011
http://www.ago-online.de/_download/unprotected/leitlinie_endometriumkarzinom_1104.pdf
7 Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Diagnostik und Therapie des Endometriumkarzinoms, Stand Jan. 2008;
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/032-034l_S2k_Endometriumkarzinom.pdf
R  8 BUYS, S.S. et al.: J. Am. Med. Ass. 2011; 305: 2295-303

* HTA = Health Technology Assessment; systematische wissenschaftliche Bewertung gesundheitsrelevanter Maßnahmen

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 14. Oktober 2011

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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