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Im Blickpunkt

GEFÄLSCHTE STUDIEN - WO BLEIBEN DIE RÜCKRUFE DER VERÖFFENTLICHUNGEN?

Zwölf Jahre hat es gedauert, bis The Lancet die Veröffentlichung einer methodisch mangelhaften und wissenschaftlich unredlichen Studie komplett zurückgezogen hat. In der Arbeit wurde ein Zusammenhang der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) mit entzündlichen Darmerkrankungen und Autismus hergestellt.1,2 Schwere Manipulationen und Fälschungen fallen auch bei wichtigen Studien zu umsatzstarken Arzneimitteln auf:

∎  Erst kürzlich berichteten wir über eine Arbeit zur sofortigen antibiotischen Therapie im Vergleich mit abwartendem Vorgehen bei Otitis media. Durch nachträgliche Veränderung der Endpunkte wurde aus einer Negativstudie eine positive zu Gunsten der sofortigen Therapie (a-t 2011; 42: 17-8).

∎  In der VIGOR*-Studie mit Rofecoxib (VIOXX, außer Handel) wurden wesentliche Risikodaten verschwiegen, in der CLASS*-Studie mit Celecoxib (CELEBREX) vorläufige Risikodaten hochgerecht und veröffentlicht, obwohl ungünstige Erkenntnisse zu Ulkuskomplikationen bereits vorlagen (a t 2001; 32: 87-8). Dies ermöglichte die ungehinderte Vermarktung der Cox-2-Hemmer.

∎  Veränderungen des primären Endpunktes bei fünf Studien täuschen eine Wirksamkeit des Antiepileptikums Gabapentin (NEURONTIN, Generika) bei Off-label-Indikationen wie Migräne vor (a-t 2009; 40: 109).

∎  Beim Bisphosphonat Zoledronat (ZOMETA) wurde durch nachträgliche Änderung des primären onkologischen Endpunktes - was in der Publikation der ABCSG*-12-Studie verschleiert wird - aus einer zuvor negativen Studie eine zumindest zum Teil positive (a-t 2009; 40: 38-9).

∎  Die Schlussfolgerung der Studie 329 mit Paroxetin (SEROXAT, Generika), dass der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer "gut verträglich und wirksam"3 zur Behandlung von Depressionen Jugendlicher sei, wurde erst durch nachträgliches Umdefinieren der Endpunkte möglich (a-t 2004; 35: 45-6).4

ABCSG = Austrian Breast and Colorectal Cancer Study Group
  CLASS = Celecoxib Longterm Arthritis Safety Study
  VIGOR = VIOXX Gastrointestinal Outcome Research

Solche Manipulationen sind nur die Spitze des Eisbergs. Systematische Auswertungen veranschaulichen die Dimension: Nach einer Metaanalyse von 18 Studien haben durchschnittlich 2% der befragten Wissenschaftler zugegeben, mindestens einmal Daten erfunden, gefälscht oder verändert zu haben, und bis zu 34% bestätigen andere fragwürdige Praktiken wie "Veränderung von Design, Methodik oder Ergebnissen einer Studie auf Anforderung oder Druck des Sponsors".5 Dies wirkt sich auf die Glaubwürdigkeit von Veröffentlichungen aus: Von 72 Studien, die der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zur Zulassung von Antidepressiva eingereicht wurden, bewertet die FDA jede zweite (36 von 72) hinsichtlich der Wirksamkeit als negativ oder zumindest fraglich. 11 dieser 36 ungünstigen Studien, also 31%, wurden später manipuliert als Positivstudie publiziert (a-t 2010; 41: 1-3).

Was aber passiert mit all den Studien, die als gefälscht erkannt sind und die die Therapie nachhaltig beeinflussen können - zum finanziellen Nutzen von Pharmafirmen und zum Schaden von Patienten? Einzelne der in manipulierten Studien ungerechtfertigt positiv abschneidenden Arzneimittel mussten inzwischen immerhin aus dem Handel gezogen (z.B. VIOXX; a-t 2004; 35: 116) oder in der Anwendung eingeschränkt werden (z.B. Warnung vor Paroxetin für Jugendliche). Verfälschte und irreführende Studien bleiben hingegen unverändert über Zeitschriftenarchive und Datenbanken zugänglich und erhalten keinen Warnhinweis auf wissenschaftlichen Betrug. Die meisten Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften lassen Initiativen vermissen, ihre Fachblätter von gefälschten Veröffentlichungen zu befreien. Die Herausgeber des Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, in dem die Paroxetin-Studie 3293 bei Jugendlichen veröffentlicht wurde, sehen auf der Basis der aktuellen Herausgeberrichtlinien keine Rechtfertigung, die inzwischen zweihundertfach zitierte Arbeit zurückzurufen. Dabei werden die eingreifenden Manipulationen andernorts detailliert diskutiert.4

Anscheinend behalten ökonomische Interessen die Oberhand. Fachzeitschriften profitieren gleich mehrfach von manipulationsanfälligen industriegesponserten Studien. Diese tragen wesentlich zu einem hohen Impact-Faktor bei,6 der aus der Häufigkeit der Zitate in anderen Fachzeitschriften errechnet wird und das Renommee der Zeitschriften erhöht - und damit auch deren Anzeigenpreise. Auch Sonderdrucke können den Umsatz beträchtlich steigern. The Lancet erzielte 2005/06 41% des Einkommens über Sonderdrucke.6 Nachdrucke einer einzigen Studie bringen bis zu eine Million Dollar Umsatz.7

Aufgrund solcher - weder deklarierten noch sonst erkennbaren - Interessenkonflikte von Fachzeitschriften erscheint es überfällig, dass die Herausgeber einheitliche Kriterien etablieren, um systematisch solche Studien aus dem Verkehr zu ziehen, die im Spannungsfeld zwischen Forschungsbetrug, Bias und Schlamperei den wissenschaftlichen Kenntnisstand verfälschen. Die Zahl der dann zurückzuziehenden Arbeiten könnte beträchtlich sein. Wurden zu Beginn der 2000er Jahre nur vereinzelt Studien einkassiert, sind es 2009 mehr als 50 von den in der US-amerikanischen Medizin-Datenbank PubMed gelisteten Arbeiten.8** Sollten durch stringente Regeln tausende von Arbeiten zurückgezogen oder richtig gestellt werden müssen, wäre dies eine sinnvolle Bereinigung des akademischen Studienpools und eine wichtige Voraussetzung für zuverlässige Therapieentscheidungen.

∎  Eine Vielzahl veröffentlichter Studien ist in Design und Ergebnisdarstellung derart stark verfälscht, dass sie falsche Therapieentscheidungen bahnen.

∎  Selbst wenn gravierende Manipulationen erkannt sind, werden die Studien in aller Regel nicht zurückgezogen oder korrigiert.

∎  Die Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften sind aufgefordert, einheitliche Regeln für den Rückruf gefälschter Studien zu etablieren und diese konsequent umzusetzen.

  (R =randomisierte Studie)
1 Editors of The Lancet: Lancet 2010; 375: 445
2 DEER, B.: BMJ 2011; 342: 200-4
R 3 KELLER, M.B. et al.: J. Am. Child Adolesc. Psychiatry 2001; 40: 762-72
4 NEWMAN, M.: BMJ 2010; 341: 1246-8
5 FANELLI, D.: PLoS ONE 2009; 4 (5): e5738 (11 Seiten)
6 LUNDH, A. et al.: PLoS Medicine 2010; 7 (10): e1000354 (7 Seiten)
7 SMITH, R.: BMJ 2003; 326: 1202-5
8 MARCOVITCH, H.: BMJ 2011; 342: 206

** Regelmäßige Infos über Studienrücknahmen z.B. unter: http://retractionwatch.wordpress.com

© 2011 arznei-telegramm, publiziert am 4. März 2011

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