logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
vorheriger Artikela-t 2009; 40: 67-8 
Warnhinweis

KREBS UNTER GLARGIN (LANTUS)
...Marktrücknahme logische Konsequenz

* Vorversion am 27. Juni 2009 als blitz-a-t veröffentlicht.

Nach Beobachtungsstudien haben Patienten mit Typ-2-Diabetes ein erhöhtes Risiko, an bestimmten Krebsformen zu erkranken, darunter Brust- und Darmkrebs. Diskutiert wird, dass Hyperinsulinämie, durch die schwachen zellwachstumsfördernden Effekte des Insulins selbst, aber auch durch gesteigerte Verfügbarkeit des Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktors 1 (IGF 1), dazu beiträgt.1-3 Der Rezeptor des Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktors 1 hat eine Schlüsselrolle in der Tumorbiologie. Schon seit seiner Markteinführung im Jahr 2000 besteht der Verdacht (a-t 2000; 31: 108), dass das langwirksame Insulinanalog Glargin (LANTUS), das eine höhere Affinität zum IGF-1-Rezeptor besitzt als Humaninsulin, das Krebsrisiko im Vergleich zu Humaninsulin steigern könnte. In Hersteller-unabhängigen experimentellen Studien hat Glargin deutlich stärkere proliferative Effekte auf Krebszellen als Humaninsulin, und zwar auch in therapeutischen Konzentrationen.4-6

Trotz des langjährigen Verdachts gab es bislang keine klinischen Studien zur Sicherheit von Insulinanaloga im Vergleich mit Humaninsulin im Hinblick auf Krebsentwicklung. Jetzt erscheinen - wegen der möglichen Folgen für die Therapie gebündelt - gleich vier retrospektive Beobachtungsstudien,7-10 von denen drei eine Zunahme des Krebsrisikos unter Insulin glargin erkennen lassen.7-9 Die größte dieser Studien stammt von Autoren des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. 130.000 AOK-versicherte Patienten mit Diabetes sind einbezogen, die entweder Humaninsulin oder eines der Kunstinsuline Lispro (HUMALOG, LIPROLOG), Aspart (NOVORAPID) oder Glargin spritzen** und bei denen in den drei Jahren vor Studieneinschluss keine Hinweise auf eine maligne Erkrankung bestanden. Primärer Endpunkt ist die Diagnose eines malignen Tumors. Die Patienten sind im Schnitt 66 bis 70 Jahre alt. Die Mehrzahl nimmt zusätzlich orale Antidiabetika ein, dürfte somit einen Typ-2-Diabetes haben. Das Krebsrisiko steigt mit zunehmender Insulindosis, sowohl unter Humaninsulin als auch unter Analoga. Dieser dosisabhängige Anstieg ist aber unter Glargin signifikant stärker: Wenn täglich 10 Einheiten (E) gespritzt werden, beträgt die Hazard Ratio (HR) im Vergleich zu Humaninsulin 1,09 (95% Konfidenzintervall [CI] 1,00-1,19), bei täglich 30 E 1,19 (95% CI 1,10-1,30) und bei täglich 50 E 1,31 (95% CI 1,20-1,42).7 Während von 1.000 Patienten, die mit Humaninsulin behandelt werden, innerhalb von durchschnittlich 20 Monaten insgesamt etwa 41 an Krebs erkranken, sind unter täglich 10 E Glargin etwa 4 weitere Patienten betroffen, unter täglich 50 E etwa 13 zusätzlich.11 Für die kurzwirksamen Analoga Aspart oder Lispro lässt sich keine Risikozunahme erkennen.7

** Andere Kunstinsuline wie Insulin detemir (LEVEMIR, im Handel seit Aug. 2004) sind nicht einbezogen, da diese nicht im kompletten Studienzeitraum verfügbar waren.

Die Autoren betonen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass andere unbekannte Faktoren zu diesem Ergebnis beigetragen haben könnten.11 Angesichts der experimentellen Vorbefunde sehen wir jedoch ein klares Risikosignal. Zwei weitere aktuelle Beobachtungsstudien8,9 aus Schweden und Schottland weisen zudem in die gleiche Richtung, wenn auch weniger deutlich. Hier werden jeweils drei Vergleichsgruppen gebildet: Patienten ausschließlich unter Glargin, unter Glargin zusammen mit anderen Insulinen sowie unter Insulinen ohne Glargin. Ein erhöhtes Krebsrisiko im Vergleich mit anderen Insulinen - für Brustkrebs8,9 bzw. für Krebs insgesamt9 - wird nur in den Gruppen gefunden, die ausschließlich Glargin verwenden. Die Dosierung der Insuline, die nach den Ergebnissen der deutschen Studie entscheidend mit dem Krebsrisiko assoziiert ist, kann jedoch in den drei anderen Studien nicht oder nicht angemessen berücksichtigt werden.

Dass die Unterschiede im Krebsrisiko innerhalb verhältnismäßig kurzer Nachbeobachtungszeiten sichtbar werden - in der deutschen Studie innerhalb einer mittleren Nachbeobachtung von 1,6 und einer maximalen Nachbeobachtung von 4,4 Jahren -, kann, wenn Glargin tatsächlich die Ursache ist, nur im Sinne einer Wachstumsförderung bereits vorhandener maligner Zellen interpretiert werden. Hinweise darauf, dass Insulin oder Insulinanaloga die Entartung gesunder Zellen fördern, gibt es nicht.1

Sanofi-Aventis verweist in einer Pressemitteilung12 auf eine aktuell publizierte randomisierte Langzeitinterventionsstudie mit Glargin im Vergleich zu NPH-Insulin, in der sich im Verlauf von fünf Jahren keine Erhöhung der Krebsrate unter dem Analog zeigt (11,1% vs. 12,3% unter NPH-Insulin).13 Bei dieser Studie handelt es sich um die von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA geforderte Sicherheitsstudie zur Progression der diabetischen Retinopathie unter Glargin (vgl. a-t 2008; 39: 50-1). Auf die Frage der Krebsentwicklung war die Studie nicht angelegt. Tumoren wurden unter den unerwünschten Wirkungen erfasst. Vor allem aber ist die Studie mit rund 1.000 Patienten, von denen knapp 30% vorzeitig ausscheiden, für die Fragestellung deutlich zu klein. Das unauffällige Ergebnis kann daher den Verdacht nicht entkräften.

Die von Anfang an bestehenden Sicherheitsbedenken hätten die Behörden - wie vielfach gefordert - im Zuge des Zulassungsverfahrens abklären lassen beziehungsweise die Zulassung an die Verpflichtung koppeln müssen, dass Sicherheitsstudien zur Abklärung der Kanzerogenität zeitnah durchgeführt werden - und zwar bevor Glargin breit verordnet wurde. Dies ist unterblieben.7 Trotz der Vorbehalte ist LANTUS in Deutschland mit mehr als 1,5 Millionen Packungen im Jahr heute das meistverordnete und umsatzstärkste Insulin.

Aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes sind jetzt Hersteller und Zulassungsbehörden in der Pflicht, die Unbedenklichkeit von Glargin zu belegen. Bis dahin sollte das bedenkliche Kunstinsulin, für das zudem allenfalls ein marginaler Zusatznutzen im Vergleich zu Humaninsulin dokumentiert ist,14,15 unter Berücksichtigung einer angemessenen Umstellungsfrist von wenigen Wochen vom Markt genommen werden. Die europäische Zulassungsbehörde EMEA räumt in einer Pressemitteilung ein, dass die durch die vier Studien aufgekommenen Bedenken einer eingehenden Untersuchung bedürfen. Dass die Behörde gleichzeitig Glarginanwendern empfiehlt, "die Behandlung wie gewohnt fortzusetzen",16 ist für uns nicht mit vorbeugendem Verbraucherschutz vereinbar. Für das langwirksame Insulinanalog Detemir (LEVEMIR) sind ebenfalls dringend Sicherheitsstudien erforderlich.

Wir raten, mit den Patienten die Umstellung auf Humaninsulin zu besprechen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass NPH-Insulin bei höheren Basalinsulindosierungen zweimal täglich gespritzt werden sollte. Bei der Umstellung sollte die Gesamtdosis des Basalinsulins sicherheitshalber zunächst etwas reduziert werden, um Hypoglykämien, die durch das veränderte Wirkprofil von NPH-Insulin bedingt sein können, zu vermeiden. Der Blutzucker sollte während der Umstellung engmaschiger kontrolliert werden, besonders auch nachts. Anschließend sollte man sich langsam der für den individuellen Patienten optimalen Dosierung wieder annähern.

∎  In drei von vier aktuell publizierten retrospektiven Beobachtungsstudien lässt sich eine Zunahme von Krebs unter dem langwirksamen Insulinanalog Glargin (LANTUS) im Vergleich mit Humaninsulin bzw. anderen Insulinen erkennen.

∎  Die Befunde bekräftigen den Verdacht auf erhöhte krebsfördernde Wirkung von Glargin, der aufgrund experimenteller Studien schon seit Markteinführung besteht.

∎  Wir fordern das Ruhen der Zulassung für Glargin, solange seine Unbedenklichkeit nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
 1SMITH, U., GALE, E.A.M: Diabetologia 2009; online publ. am 26. Juni 2009; zu finden unter: http://www.diabetologia-journal.org/cancer.html
M2LARSSON, S.C. et al.: Int. J. Cancer 2007; 121: 856-62
M3LARSSON, S.C. et al.: J. Natl. Cancer Inst. 2005; 97: 1679-87
 4MAYER, D. et al.: Arch. Physiol. Biochem. 2008; 114: 38-44
 5WEINSTEIN, D. et al.: Diabetes Metab. Res. Rev. 2009; 25: 41-9
 6SHUKLA, A. et al.: Endocr. Relat. Cancer 2009; 16: 429-41
 7HEMKENS, L.G. et al.: Diabetologia 2009; online publ. am 26. Juni 2009 http://www.diabetologia-journal.org/cancer_files/081131Hemkenscorrectedproofs.pdf
 8JONASSON, J.M. et al: Diabetologia 2009; online publ. am 26. Juni 2009 http://www.diabetologia-journal.org/cancer_files/090776Jonassonacceptedpaper.pdf
 9SDRN Epidemiology Group: Diabetologia 2009; online publ. am 26. Juni 2009; http://www.diabetologia-journal.org/cancer_files/090818Colhounacceptedpaper.pdf
 10CURRIE, C.J. et al.: Diabetologia 2009; online publ. am 26. Juni 2009 http://www.diabetologia-journal.org/cancer_files/090740Currieuncorrected1stproofs.pdf
 11IQWiG: Pressemitteilung vom 26. Juni 2009 http://www.iqwig.de/index.879.html
 12Sanofi-Aventis: Pressemitteilung vom 27. Juni 2009
R13ROSENSTOCK, J. et al.: Diabetologia 2009; online publ. am 13. Juni 2009 http://webcast.easd.org/press/glargine/download/081539Rosenstock.pdf
M14IQWiG: Langwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2, Abschlussbericht A05-03 vom 26. Febr. 2009; http://www.iqwig.de/download/A05-03_Abschlussbericht_Langwirksame_ Insulinanaloga_bei_Diabetes_mellitus_Typ_2_V1.1.pdf
M15SINGH, S.R. et al.: CMAJ 2009; 180: 385-97
16EMEA: Pressemitteilung vom 29. Juni 2009; http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/Lantus/40847409en.pdf

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 3. Juli 2009

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

vorheriger Artikela-t 2009; 40: 67-8