logo
logo
Die Information für medizinische Fachkreise
Neutral, unabhängig und anzeigenfrei
                            a-t 2009; 40: 43-4nächster Artikel
Neu auf dem Markt

AGOMELATIN (VALDOXAN) BEI DEPRESSION

Im zweiten Anlauf ist im April 2009 der vor drei Jahren von der europäischen Arzneimittelbehörde (EMEA) wegen Wirkschwäche abgelehnte1 und bislang nur in der Ukraine vertriebene Melatoninagonist Agomelatin (VALDOXAN) auch in Deutschland auf den Markt gekommen. Im Gegensatz zu Melatonin (CIRCADIN; a-t 2008; 39: 45-6) ist Agomelatin nicht als Schlafmittel zugelassen, sondern zur Behandlung von Episoden einer "Major Depression"* bei Erwachsenen.2

* Wie in letzter Zeit mehrfach bei zentralen Zulassungen der europäischen Arzneimittelbehörde EMEA zu beobachten ist, wird anstelle von ICD-10 Diagnosen eine amerikanische DSM-IV-Diagnose verwendet. Die Indikation "Episoden einer Major Depression" entspricht am ehesten der depressiven Störung nach hiesigem ICD-10 und schließt nach Auskunft des BfArM auch die Behandlung einer ersten depressiven Episode ein.15

EIGENSCHAFTEN: Agomelatin ist ein schwacher Hemmer serotonerger 5-HT2c-Rezeptoren, ein Effekt, der beispielsweise zu den Wirkungen der Antidepressiva Mianserin (TOLVIN, Generika), Mirtazapin (REMERGIL, Generika) und Amitriptylin (SAROTEN, Generika) beitragen soll.3 Daneben wirkt die Neuerung agonistisch an melatonergen MT1- und MT2-Rezeptoren. Bei Depressionen sollen ein gestörter Schlaf und insbesondere ein veränderter zirkadianer Rhythmus eine Rolle spielen.4-6 Wie sich Agomelatin auf den Schlaf depressiver Patienten auswirkt, lässt sich derzeit jedoch nicht beurteilen, da neben einer Hersteller-gesponserten Positivstudie7 mindestens drei weitere nicht vollständig veröffentlichte Untersuchungen existieren.

WIRKSAMKEIT: Der Zulassung von Agomelatin liegen unter anderem sechs plazebokontrollierte Kurzzeitstudien über maximal acht Wochen zugrunde, von denen drei negativ ausfallen und - ähnlich wie bei anderen Antidepressiva (a-t 2008; 39: 22) - nicht veröffentlicht sind. Die drei Positivstudien8-10 sind dagegen zusätzlich selektiv in einer gepoolten Analyse11 publiziert, deren Autoren dem Hersteller Servier nahe stehen. Bei metaanalytischer Auswertung aller sechs Studien, darunter eine Dosisfindungsstudie, ergibt sich gegenüber Plazebo auf der Hamilton Depressionsskala eine Differenz von 1,5 Punkten (95% Konfidenzintervall 0,8-2,2).12 Das britische NICE postuliert für eine klinisch relevante Wirksamkeit eines Antidepressivums im Plazebovergleich jedoch eine Differenz von mindestens 3 Punkten.13 Selbst die als wirkschwach eingestuften SSRI schneiden mit einem Unterschied von 1,8 Punkten (a-t 2008; 39: 28) im indirekten Vergleich etwas besser ab.

Die vorgelegten Daten zur Dosierung lassen keine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung erkennen und werden von der EMEA als "unbefriedigend" eingestuft. Es ist auch nicht belegt, dass 50 mg Agomelatin wirksamer sind als 25 mg,12 obwohl in der Fachinformation bei Nichtansprechen eine Dosisverdoppelung auf 50 mg empfohlen wird.2 Diese offenen Fragen sollen nun in Postmarketingstudien geklärt werden, ebenso der Effekt des Melatoninagonisten bei älteren Patienten: In einer ebenfalls unveröffentlichten Kurzzeitstudie schneidet Agomelatin bei über 60-Jährigen nicht besser ab als Plazebo. Laut EMEA konnte ein Nutzen bei älteren Patienten nicht nachgewiesen werden.12 Die Formulierung in der Fachinformation: "Die Wirksamkeit bei älteren Patienten ≥ 65 Jahre) wurde nicht eindeutig belegt",2 verschleiert dies.

Zulassungsrelevant sind zudem zwei etwa sechsmonatige Untersuchungen, in denen vorrangig die Vorbeugung von Rückfällen geprüft wird. 367 bzw. 339 Patienten, die auf eine zweimonatige Behandlung mit Agomelatin angesprochen haben, nehmen anschließend verblindet weiter den Melatoninagonisten oder Plazebo ein. Während sich die Rückfallraten in der ersten Untersuchung in beiden Gruppen nicht unterscheiden (Plazebo: 23,5%, Agomelatin: 25,9%), erleiden in der zweiten Studie unter Plazebo doppelt so viele Teilnehmer einen Rückfall wie unter Verum (41% vs. 21%).12 Rückfälle wurden in beiden Studien allerdings unterschiedlich definiert.** Zudem waren in der zweiten Studie die Patienten stärker selektiert und der Anteil schwerkranker Personen größer. Letztlich bleiben die Gründe für die widersprüchlichen Ergebnisse jedoch unklar.12

** Rückfall: in der ersten Studie definiert als Punktwert ≥ 16 der Hamilton-Skala, Suizid oder Suizidversuch; in der zweiten Studie zusätzlich "Absetzen wegen Wirkungslosigkeit"

Obwohl die EMEA den Behandlungseffekt als nur von "marginaler klinischer Relevanz" einstuft,12 wird Agomelatin unter der Auflage, Studien nachzureichen, zugelassen. Die Firma Novartis, die das Mittel in den USA auf den Markt bringen will, hat die Phase-III-Studien dagegen neu aufgelegt.

STÖRWIRKUNGEN: Wenige Tage vor Markteinführung versendet Servier eine Broschüre "für Ärzte zur sicheren Anwendung von VALDOXAN"14, in der die potenzielle Lebertoxizität des Melatoninagonisten thematisiert wird. Transaminasenanstieg auf mehr als das Dreifache der Norm betrifft in klinischen Studien 1,4% unter 50 mg Agomelatin, 1,0% unter 25 mg und 0,7% unter Plazebo. Hepatitis, die sich bei einem Anwender bis 2,5 Jahre nach Absetzen nicht zurückgebildet hat, sowie Anstieg der Leberwerte auf mehr als das Zehnfache der Norm sind beschrieben. Regelmäßige Kontrollen sollen das Risiko potenziell irreversibler Leberschäden mindern.12

Häufiger als unter Scheinmedikament kommt es in Kurzzeitstudien unter Agomelatin zu Übelkeit, abdominellen Schmerzen, Schwindel, Somnolenz, Müdigkeit, Angst, Parästhesien sowie verschwommenem Sehen. Störwirkungen im Bereich der Brust und der Geschlechtsorgane (2,2% vs. 0,7%), darunter eine schwere fibrozystische Mastopathie, sind beschrieben. Im Tierversuch beeinflusst Agomelatin nicht nur Prolaktin, sondern auch weitere Hypophysen- und Hypothalamushormone. Bei männlichen und weiblichen Ratten fallen Fibroadenome der Brustdrüsen auf. Suizidversuche sind unter Agomelatin bei 0,6% erfasst (Plazebo: 0,4%).12

Demenzpatienten sollen Agomelatin nicht einnehmen:2 In einer unveröffentlichten Studie mit Patienten mit ALZHEIMER-Demenz ist die Mortalität unter Agomelatin gegenüber Plazebo erhöht (15/356 [4,2%] vs. 1***). Die EMEA führt dies am ehesten auf - nicht näher erläuterte - Ungleichheiten von Risikofaktoren zu Studienbeginn zurück.12

*** Die Plazebogruppe kann maximal 327 Patienten umfassen, konkrete Angaben dazu fehlen im Europäischen Beurteilungsbericht (EPAR).

KOSTEN: Täglich 25 mg Agomelatin (VALDOXAN) kosten pro Monat 62 € und damit 36% mehr als das Citalopram-Original CIPRAMIL (46 € für täglich 20 mg). Gegenüber einem preiswerten Citalopram-Generikum (z.B. CITALON: 10 €) oder Amitriptylin (täglich 150 mg; SAROTEN RETARD: 18 €; AMITRIPTYLIN DURA RETARD: 16 €, jeweils Kosten pro Monat) ist das 3,5- bis 6fache aufzuwenden.

Der Melatoninagonist Agomelatin (VALDOXAN) wurde im zweiten Anlauf zur Behandlung depressiver Episoden Erwachsener zugelassen.

Die Nutzen-Schaden-Bilanz ist negativ: Dem unzureichend belegten Nutzen, der zudem laut EMEA von marginaler klinischer Relevanz ist, stehen potenziell irreversible Leberschäden gegenüber.

Die Zulassung ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir sehen für Agomelatin keine Indikation.

  (R = randomisierte Studie)
  1 EMEA: Europ. Beurteilungsber. (EPAR) VALDOXAN, Stand 27. Juli 2006
http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/valdoxan/H-656-RAR-en.pdf
  2 Servier: Fachinformation VALDOXAN, Stand Febr. 2009
  3 MILLAN, M.J. et al.: Thérapie 2005; 60: 441-60
  4 LEWY, A.J. et al.: Science 1987; 235: 352-5
  5 ARENDT, J., RAJARATNAM, S.M.W.: Brit. J. Psychiatry 2008; 193: 267-9
 6DOLDER, C.R. et al.: Ann. Pharmacother. 2008; 42: 1822-31
R7LEMOINE, P. et al.: J. Clin. Psychiatry 2007; 68: 1723-32
R8LÔO H. et al.: Int. Clin. Psychopharmacol. 2002; 17: 239-47
R9OLIÉ, J.P., KASPER, S.: Int. J. Neuropsychopharmacol. 2007; 10: 661-73
R10KENNEDY, S.H., EMSLEY, R.: Eur. Neuropsychopharmacol. 2006; 16: 93-100
 11MONTGOMERY, S.A., KASPER, S.: Int. Clin. Psychopharmacol. 2007; 22: 283-91
 12EMEA: Europ. Beurteilungsber. (EPAR) VALDOXAN, Stand 17. März 2009 zu finden unter
http://www.emea.europa.eu/htms/human/epar/v.htm
 13National Institute for Clinical Excellence (NICE): Guideline No. 23 Depression: Management of depression in primary and secondary care; 2004;
http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/CG23fullguideline.pdf
 14Servier: Anlage zu Schreiben vom 27. März 2009 http://www.servier.de/media/valdoxan_informationen_fuer_aerzte.pdf
 15BfArM: Schreiben vom 27. März 2009

© 2009 arznei-telegramm, publiziert am 15. Mai 2009

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.

                            a-t 2009; 40: 43-4nächster Artikel