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Im Blickpunkt

WIRD DIE WIRKSAMKEIT DER INFLUENZAIMPFUNG ÜBERSCHÄTZT?

Mit dem Herbst beginnt die Zeit für die jährliche Influenzaimpfung, gemäß den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission für alle Personen über 60 Jahre oder mit gesundheitlicher Gefährdung aufgrund chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus. Die Prophylaxe soll vor Ausbruch und Komplikationen der Viruserkrankung schützen.1 Das Robert Koch-Institut propagiert die Impfung auch mit dem Hinweis, dass zwischen der Grippesaison 2001/02 und 2006/07 insgesamt 5.300 influenzabedingte Todesfälle verhindert worden seien. In diesem Jahr wird die Impfsaison jedoch von einer auch in der Tagespresse2 geführten Diskussion eingeleitet, ob der Nutzen der Impfung überschätzt wird.

Bedenken, dass die allgemein akzeptierten und weltweit von Entscheidungsträgern in Impfempfehlungen umgesetzten Annahmen zur Wirksamkeit - insbesondere in Bezug auf die Senkung der Mortalität - zu optimistisch sind, werden seit Langem geäußert. In unserer Übersicht zur Evidenzlage der Influenzaimpfung wiesen wir 2004 darauf hin, dass randomisierte kontrollierte Studien zum Einfluss auf Krankheitskomplikationen fehlen und der aus Observationsstudien abgeleitete Nutzen aufgrund vielfältiger Verzerrungen überschätzt sein könnte (a-t 2004; 35: 120-3).

Kritiker, darunter die Autoren einer Cochrane-Übersicht3 zur Grippeimpfung, weisen auf Ungereimtheiten in der bisherigen Datenlage zum Impfnutzen hin: Nach Daten aus Beobachtungsstudien soll die Impfung die Gesamtsterblichkeit während der winterlichen Influenzaperioden um bis zu 50% senken. Die durch die Virusgrippe bedingte "Exzessmortalität" beträgt jedoch nur etwa 5% bis 10% der Gesamttodesfälle, sodass eine derart starke Reduktion der Sterblichkeit nicht plausibel erscheint. Nach Berechnungen aus den USA ist zudem trotz Zunahme der Impfraten bei Älteren von 15% auf 65% zwischen 1980 und 2001 die der Grippe zugeschriebene Exzessmortalität nicht rückläufig, auch nicht unter Berücksichtigung demographischer Faktoren und unterschiedlich virulenter Virusserotypen. Auch gab es in der Influenzasaison 1997/ 98 eine völlige Diskrepanz zwischen Impfviren und tatsächlich zirkulierenden Viren. Dennoch stieg die Exzessmortalität nicht an.4

Dass die Impfung möglicherweise gerade bei Älteren unzuverlässig schützt, lässt sich aus einer Subgruppenauswertung einer randomisierten kontrollierten Studie ableiten, in der 1.838 Personen über 60 Jahre gegen Influenza geimpft werden oder Plazebo erhalten. In der Gesamtgruppe sinkt die Rate serologisch diagnostizierter Influenza von 9% unter Plazebo auf 4% unter Verum (Relatives Risiko [RR] 0,50; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,35-0,61). Bei über 70-Jährigen ist der Effekt jedoch deutlich geringer (6,8% versus 5,2%; RR 0,77; 95% CI 0,39-1,51).5 Die Ergebnisse weisen auf die schwächer werdende Immunantwort im höheren Lebensalter hin.

GRIPPEIMPFUNG: ERFOLGSRATEN GEBASTELT NACH RKI-METHODE

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts hat die Grippeimpfung in den Grippesaisons 2001/02 bis 2006/07 5.300 grippebedingte Todesfälle verhindert. Weitere 2.800 Grippe-Tote hätten verhindert werden können, wenn das WHO-Ziel, eine 75%ige Impfrate bei Älteren, erreicht worden wäre.1 Die Berechnung beruht auf der Annahme, dass der "Impfstoff zu 30% wirksam in der Verhinderung einer tödlichen Grippeinfektion bei über 60-Jährigen" ist.1 Grundlage dieser Annahme sind wiederum zwei Observationsstudien aus den Jahren 20042 und 20073. Liest man in diesen Arbeiten nach, ist man verwundert, da in beiden die Zahl der tödlichen Grippeinfektionen gar nicht geprüft wird. Es werden zwar Sterberaten ermittelt. In der ersten2 Arbeit wird jedoch die Todesrate an allen respiratorischen Erkrankungen gemessen (12%ige Reduktion), in der zweiten3 die Gesamtmortalität, mit völlig unrealistischem Ergebnis (48%ige Reduktion). Das RKI scheut sich nicht, den Mittelwert aus Äpfeln und Birnen zu bilden und diesen als Rhabarber zu verkaufen: (12% + 48%) : 2 = 30%ige Reduktion tödlicher Grippeinfektionen. Diese in absurder Weise hergeleiteten und daher vermutlich falschen Zahlen werden öffentlich kommuniziert und dienen offenbar als Entscheidungsbegründung für Impfempfehlungen.1

 1BUCHHOLZ, U.: Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft Influenza 2008; http://www.rki.de/cln_100/nn_200120/DE/Content/InfAZ/I/Influenza/PK__AGI__2008__Buchholz__ Vortrag,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/PK_AGI_2008_Buchholz_Vortrag.pdf
 2MANGTANI, P. et al.: JID 2004; 190: 1-10
 3NICHOL, K.L. et al.: N. Engl. J. Med. 2007; 357: 1373-81

Die positiven Daten aus Observationsstudien könnten somit Folge unerkannter Verzerrungen (Bias) sein. Mehrere Studien gehen möglichen Ursachen nach: Eine 2006 veröffentlichte Kohortenstudie6 überprüft acht Jahre lang den Effekt der Influenzaimpfung bei 72.527 Personen über 64 Jahre sowohl während als auch außerhalb der Influenzasaison. Das Mortalitätsrisiko ist bei Geimpften während der Grippesaison fast halbiert (RR 0,56; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,52-0,61). Sie haben jedoch bereits vor der Grippesaison (RR 0,39) und auch danach (RR 0,75) ein erniedrigtes Sterberisiko. Auch Krankenhausaufnahmen wegen Pneumonie oder Influenza sind nicht nur während, sondern auch außerhalb von Grippewellen bei Geimpften seltener. Da die Impfung außerhalb der Influenzasaison, wenn also gar keine Grippeviren zirkulieren, keinen messbaren Nutzen haben dürfte, gehen die Autoren von einem "healthy user effect" aus: Patienten mit weniger schweren Grunderkrankungen oder gesünderer Lebensweise lassen sich eher impfen, was einen Nutzen der Immunisierung vortäuscht. Mit üblichen Adjustierungsmaßnahmen lässt sich dieser Effekt nicht kontrollieren, da sie die Schwere der berücksichtigten Erkrankungen nicht korrekt abbilden und zudem wichtige prognostische Faktoren wie Gebrechlichkeit oder sozioökonomischer Status nicht erfasst werden.6

Eine aktuelle Studie7 überprüft jetzt die mögliche Verzerrung durch den "healthy user effect": Aus einer Kohorte von 1.813 mit ambulant erworbener Pneumonie stationär aufgenommen Patienten werden 352 geimpfte Patienten mit gleich viel nicht geimpften "gematchten" Kontrollen verglichen. Auch hier lässt sich für Zeiträume außerhalb der Influenzasaison eine "Reduktion" der Sterblichkeit bei Geimpften um die Hälfte errechnen - die logischerweise nicht durch die Impfung entstanden sein kann. Adjustierung für übliche Begleiterkrankungen ändert das Ergebnis nicht wesentlich. Werden jedoch weitere Faktoren wie sozioökonomischer Status und Hilfsbedürftigkeit in die Berechnung einbezogen, sinkt der errechnete scheinbare Effekt auf eine statistisch nicht mehr signifikante 19%ige Risikoreduktion. Die Autoren schließen aus ihren Daten, dass der "healthy user effect" mit herkömmlichen Adjustierungsmaßnahmen gar nicht und selbst bei Erweiterung auf zahlreiche funktionelle und sozioökonomische Daten nicht vollständig zu korrigieren ist.7

In einer weiteren aktuellen Arbeit,8 einer Fallkontrollstudie, wird der Einfluss der Impfung auf die Häufigkeit ambulant erworbener Pneumonien bei 65- bis 94-Jährigen überprüft. 1.173 Patienten mit Pneumonie werden mit 2.346 Kontrollen ohne Lungenentzündung verglichen. Nach Adjustierung für Begleiterkrankungen und funktionelle Einschränkungen*, die in üblichen Adjustierungsmaßnahmen nicht erfasst werden, ergibt sich keine Schutzwirkung durch die Impfung (Odds Ratio [OR] 0,92; 95% CI 0,77-1,10).8

Die Unsicherheiten der Datenlage zur Grippeimpfung können nur mit großen randomisierten Studien ausgeräumt werden. Angesichts der weltweit einhelligen Empfehlungen erscheint es jedoch zweifelhaft, dass solche Studien auf den Weg gebracht werden. Impfkommissionen sind gefordert, die Basis ihrer Empfehlungen neu zu überprüfen und transparent zu machen. Hemdsärmelige Berechnungen (siehe Kasten) sind nicht länger akzeptabel.

Die häufig geäußerte Annahme, dass die Influenzaimpfung die Gesamtmortalität während einer Virusgrippesaison um bis zu 50% senkt, ist unrealistisch: Mehrere Kohorten- und Fallkontrollstudien weisen auf einen scheinbaren Nutzen der Influenzaimpfung auch außerhalb der Grippesaison hin. Dies ist ein klarer Hinweis dafür, dass die angeblichen Effekte der Grippeimpfung durch Verzerrungen (healthy user effect) zumindest teilweise vorgetäuscht sind.

Die Arbeiten belegen nicht die Unwirksamkeit der Influenzaimpfung, verdeutlichen aber das Fehlen valider Wirksamkeitsdaten. Die Wissenslücke kann nur geschlossen werden, indem große randomisierte plazebokontrollierte Studien durchgeführt werden.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
 1Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO), Stand Juli 2008; Epid. Bull. 2008; Nr. 30: 235-54
 2BARTENS, W.: Zweifel an der Grippe-Impfung; Süddeutsche Ztg. vom 13./14. Sept. 2008, Seite 24
M3JEFFERSON, R.D. et al.: Vaccines for preventing influenza in the elderly. The Cochrane Database of Systematic Reviews 2006, Issue 3; Stand Juli 2006
 4SIMONSEN, L. et al.: Lancet Infect. Dis. 2007; 7: 658-66
R5GOVAERT, T.M. et al.: JAMA 1994; 272: 1661-5
 6JACKSON, L.A. et al.: Int. J. Epidemiol. 2006; 35: 337-44
 7EURICH, D.T. et al.: Am. J. Respir. Crit. Care Med. 2008; 178: 527-33
 8JACKSON, M.L. et al.. Lancet 2008; 372: 398-405

 *Als funktionelle Einschränkungen werden unter anderem erfasst: Hilfsbedürftigkeit beim Baden, Anziehen, Essen, Toilettengang usw.

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 2. Oktober 2008

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