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Therapiekritik

BETABLOCKER PERIOPERATIV?

Etwa 1% bis 5% der Patienten, die sich einem nicht kardialen Eingriff unterziehen, erleiden perioperativ eine kardiale Komplikation wie schwere Rhythmusstörungen oder Herzinfarkt.1 Die aktuelle Leitlinie2 der US-amerikanischen kardiologischen Gesellschaft empfiehlt daher die perioperative Einnahme - auch das Neuansetzen - eines Betarezeptorenblockers bei Patienten mit hohem kardialen Risiko*, die sich einer Gefäßoperation unterziehen ("Klasse-I"-Empfehlung). Die Herzfrequenz soll auf unter 65/Minute gesenkt werden. Eine schwächere, jedoch immer noch positive Empfehlung wird bei mittlerem kardialen Risiko und weniger gefährlichen (z.B. orthopädischen oder abdominellen) Eingriffen gegeben. Auch hierzulande gibt es gleichlautende Einschätzungen.3

Die Empfehlungen beruhen auf unsicherer Datenbasis. In einer 2005 veröffentlichten Metaanalyse4 zur perioperativen Einnahme von Betablockern werden 22 Arbeiten mit 2.437 Patienten ausgewertet. Perioperative kardiovaskuläre Ereignisse (kardiovaskuläre Todesfälle, Herzinfarkt oder Herzstillstand) treten bei insgesamt geringer Ereignisrate nur numerisch seltener auf (relatives Risiko [RR] 0,44; 99% Konfidenzintervall [CI] 0,16-1,24). Andererseits häufen sich Störwirkungen wie behandlungsbedürftige Bradykardien (RR 2,27; 99% CI 1,36-3,80). Die in einigen Studien sehr ausgeprägten protektiven Effekte erscheinen zudem unrealistisch hoch und übertreffen bei weitem den bei chronischer koronarer Herzerkrankung nachgewiesenen Nutzen.1 In einer 2006 veröffentlichten Untersuchung hat die perioperative Einnahme von täglich 100 mg retardiertem Metoprolol (BELOC, Generika) bei 921 Diabetikern keinen Einfluss auf die Mortalität und kardiovaskuläre Komplikationsrate bei Nachbeobachtung über 18 Monate.5

Eine aktuelle randomisierte kontrollierte Studie6 überprüft bei 8.351 bislang nicht mit Betablockern vorbehandelten Risikopatienten, die sich einem nicht kardialen, vaskulären, orthopädischen oder abdominellen Eingriff unterziehen, den Nutzen einer perioperativen Behandlung mit 200 mg Metoprololsuccinat (BELOC-ZOK, Generika) über 30 Tage. 43% der Patienten leiden an einer koronaren Herzerkrankung, 40% an einer peripheren Verschlusskrankheit. Primärer Endpunkt ist Herzinfarkt, Herzstillstand oder kardiovaskulärer Tod innerhalb von 30 Tagen. Dieser tritt unter Metoprolol seltener auf als unter Plazebo (Hazard Ratio [HR] 0,84; 95% CI 0,7-0,99), hauptsächlich aufgrund von weniger Herzinfarkten. Allerdings steigt gleichzeitig die Mortalität statistisch signifikant an (HR 1,33; 95% CI 1,03-1,74), insbesondere aufgrund häufigerer Sepsis (36 [0,8%] vs. 18 [0,4%]; p = 0,016). Dies könnte mit fehlender Kreislaufkompensation bei einem perioperativen septischen Schock erklärt werden. Auch das Risiko von Insulten ist unter Metoprolol signifikant erhöht (HR 2,17; 95% CI 1,26-3,74) ebenso wie das klinisch relevanter Bradykardien (HR 2,74) und Hypotonien (HR 1,55). Die Autoren errechnen, dass bei Behandlung von 1.000 chirurgischen Patienten mit ähnlichem Risikoprofil zwar 15 Herzinfarkte verhindert werden können, es jedoch zu 8 zusätzlichen Todesfällen kommt.6

Die Studie erscheint methodisch gut durchgeführt. Allerdings ergaben sich im Verlauf der Studie Belege für betrügerische Datenmanipulationen in Studienzentren im Iran sowie in Kolumbien, sodass die in diesen Zentren randomisierten 947 Studienteilnehmer von der Auswertung ausgeschlossen wurden.6 Die Validität der Studie erscheint dadurch jedoch nicht beeinträchtigt.

Die Diskussion um die perioperative Einnahme von Betablockern wird auch mit der aktuellen Studie nicht beendet sein. In einem begleitenden Editorial wird das vorgegebene Behandlungsregime kritisiert, das ein Aufdosieren auf täglich 200 mg Metoprolol innerhalb von 24 Stunden vorsieht.7 Eine langsame über mehrere Tage bis Wochen dauernde Dosistitration könnte demgegenüber vorteilhaft sein. Dennoch weist die Studie auf die Risiken des perioperativen Betablockergebrauchs hin und insbesondere auf die ungünstige "Nettobilanz" in Bezug auf Mortalität.

In einer aktuellen Studie mit 8.351 Risikopatienten, die sich einem nichtkardialen Eingriff unterziehen, verringert perioperativer Gebrauch von rasch aufdosiertem Metoprololsuccinat (BELOC-ZOK, Generika) das Auftreten eines Kombinationsendpunkts aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt oder Herzstillstand. Gleichzeitig steigt jedoch die Mortalität sowie die Häufigkeit von nicht tödlichen Schlaganfällen, Bradykardien und Blutdruckabfällen.

Ob sich eine langsamere Aufdosierung des Betablockers günstiger auf die Mortalität auswirkt, muss durch valide Studien belegt werden. Eine Empfehlung zu einer routinemäßigen perioperativen Therapie aller Risikopatienten kann beim derzeitigen Kenntnisstand nicht gegeben werden. Wenn im Ausnahmefall Betablocker angesetzt werden, muss langsam aufdosiert werden.

  (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
 1DEVEREAUX, P.J. et al.: CMAJ 2004; 171: 245-7
 2FLEISHER, L.A. et al.: Anesth. Analg. 2007; 104: 15-26
 3BÖTTIGER, B.W., MARTIN, E.: Dtsch. Ärztebl. 2001; 98: A1896-8
M4DEVEREAUX, P.J. et al.: BMJ 2005; 331: 313-6
R5JUUL, A.B. et al.: BMJ 2006; 332: 1482; 7 Seiten
R6POISE Trial Investigators: Lancet 2008; 371; 1839-47
 7FLEISHER, L.A., POLDERMANS, D.: Lancet 2008; 371: 1813-4

© 2008 arznei-telegramm, publiziert am 6. Juni 2008

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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