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Therapiekritik

NSAR ZUR PROPHYLAXE
HETEROTOPER OSSIFIKATION NACH HÜFTGELENKSERSATZ?

*  Vorversion am 12. Sept. 2006 als blitz-a- t veröffentlicht.

Bei etwa 25% bis 40% der Patienten mit elektivem Hüftgelenksersatz bildet sich im Weichteilgewebe um das neue Gelenk Knochengewebe, eine so genannte heterotope Ossifikation. Der Prozess wird anscheinend durch die operative Traumatisierung des Gewebes angestoßen. Reifer heterotoper Knochen entsteht in der Regel innerhalb von sechs Monaten.1 Auch eine geringfügige bis mäßige heterotope Knochenbildung soll sich nach Beobachtungsstudien ungünstig auf die Gelenkfunktion auswirken. Ob ein Zusammenhang mit Schmerzen besteht, ist unklar.2 Eine kurzzeitige postoperative Prophylaxe mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) senkt Häufigkeit und Ausprägung radiologisch erfasster heterotoper Ossifikationen. Nach einer systematischen Übersicht von überwiegend randomisierten kontrollierten Studien mindern NSAR in mittlerer bis hoher Dosis, nicht aber niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.), das relative Risiko (RR) um 59% (95% Vertrauensbereich [CI] 54%-64%).1 Als möglicher Wirkmechanismus wird die Hemmung der Prostaglandinsynthese durch NSAR diskutiert. Prostaglandine spielen eine wesentliche Rolle im Knochenstoffwechsel. Aus Tierversuchen, aber auch klinisch gibt es Hinweise auf Beeinträchtigung der Frakturheilung durch NSAR.3 Ob sich die nach NSAR-Prophylaxe beobachteten Effekte auf die radiologisch erfasste heterotope Ossifikation klinisch auswirken, ist unklar.1

Eine doppelblinde randomisierte kontrollierte Studie4 (HIPAID)* geht jetzt erstmals dieser wichtigen Frage nach. Die methodisch gute Studie wird an 20 australischen und neuseeländischen orthopädischen Zentren durchgeführt und mit öffentlichen Geldern gefördert. 902 durchschnittlich 66 Jahre alte Patienten mit elektivem primären oder erneuten (8,5%) Hüftgelenksersatz werden innerhalb von 24 Stunden nach dem Eingriff in die Studie aufgenommen. Ausschlussgründe sind Anwendung von NSAR innerhalb von 48 Stunden vor der Operation (Ausnahme: Low-dose-ASS), eine definitive Indikation für NSAR, wenn beispielsweise kein anderes Schmerzmittel geeignet erscheint, oder klare Kontraindikationen wie schwere gastrointestinale Blutungen in der Vorgeschichte. Nach randomisierter Zuteilung nehmen die Patienten 14 Tage lang täglich 1.200 mg Ibuprofen (BRUFEN u.a.) oder Plazebo ein. Primär wird geprüft, wie sich sechs bis zwölf Monate nach der Operation Hüftschmerzen und körperliche Funktion, die mit Hilfe eines Fragebogens (WOMAC-Index**) erfasst werden, im Vergleich zu einer entsprechenden Befragung vor der Operation verändert haben. In diesem Zeitraum sollte die Entstehung ektopen Knochens und die Wiederherstellung der Funktion bei der Mehrheit der Patienten abgeschlossen sein.5 Zu den sekundären Endpunkten gehören der radiologische Nachweis einer heterotopen Ossifikation, klassifiziert nach BROOKER***,6 sowie schwere Blutungskomplikationen (Blutungen der Wunde über mehr als drei Tage, Entleerung eines Wundhämatoms, Bluterbrechen, Teerstuhl u.a.).4

*

HIPAID = The prevention of chronic ectopic bone-related pain and disability after hip replacement surgery with anti-inflammatory drugs

**

WOMAC-Index = Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index, Fragebogen zur Erfassung von Schmerzen, Funktion und Steifigkeit bei Arthrose, hier standardisiert auf 0 (= keine Schmerzen, keine Schwierigkeiten bei den täglichen Aktivitäten) bis 10 Punkte (= starke Schmerzen und große Schwierigkeiten bei den täglichen Aktivitäten).

***

BROOKER-Klassifikation der heterotopen Knochenbildung: Grad 1 = Knocheninseln in den Weichteilen, 2 = Knochenspangen vom Becken oder proximalen Femur mit mindestens 1 cm Abstand, 3 = Knochenspangen vom Becken oder proximalen Femur mit weniger als 1 cm Abstand, 4 = knöcherne Ankylosierung des Hüftgelenks.

Von 0,4% der Patienten fehlen Ausgangsdaten, weitere 6% (Ibuprofen) bzw. 5% (Plazebo) gehen in der Nachbeobachtung verloren. Trotz signifikanter Senkung des Risikos einer radiologisch feststellbaren heterotopen Ossifikation unter Ibuprofen (RR 0,69; 95% CI 0,57-0,83) ergibt sich acht Monate nach der Operation hinsichtlich des mittleren Schmerzscores (Senkung von eingangs jeweils 5,6 Punkten auf 1,4 [Ibuprofen] bzw. 1,2 [Plazebo]) und des Punktwerts für die körperliche Funktion (Senkung von eingangs jeweils 6,0 auf 1,9 [Ibuprofen] bzw. 1,8 [Plazebo]) kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Patienten mit schwerwiegender heterotoper Knochenbildung (BROOKER-Grad 3 und 4), die unter Plazebo bei 6,4%, unter Ibuprofen bei 2,8% auftritt, haben zwar etwas höhere Punktwerte (Schmerzen im Mittel 1,3, Funktion 2,2) als leichter oder gar nicht betroffene Patienten (Schmerzen 1,0, Funktion 1,4-1,9). Der Unterschied ist im Vergleich zu der durch die Operation selbst erzielten deutlichen Besserung jedoch sehr gering. Auch auf weitere sekundär erfasste Parameter, den Gebrauch von Analgetika gegen Hüftschmerzen in der Woche vor der Befragung, den generellen Gesundheitszustand oder objektive Funktionsprüfungen wie Grad der Flexion des Hüftgelenks hat Ibuprofen keinen erkennbaren Einfluss. Schwere Blutungen während des Krankenhausaufenthalts sind in der Verumgruppe jedoch häufiger (4,7% vs. 2,2%; RR 2,09; 95% CI 1,00-4,39; p = 0,046).4

Wir finden keine aussagekräftigen randomisierten kontrollierten Studien zum Langzeitverlauf nach NSAR-Prophylaxe bei Hüftgelenksersatz. Ob sich klinisch relevante Differenzen möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt ausbilden,7 ist somit nicht geklärt oder gar nachgewiesen. Ungeklärt ist mithin auch die Langzeitsicherheit. In einer epidemiologischen kontrollierten Studie mit 200 Patienten, von denen 162 nachbeobachtet werden, finden sich sechs Jahre nach postoperativer Einnahme von Indometazin (in Fixkombination mit Antazidum, außer Handel) keine Hinweise auf Prothesenlockerung.8 Die Ergebnisse einer im Dezember letzten Jahres publizierten Arbeit3 lassen hingegen Zweifel an der Langzeitsicherheit aufkommen.9 142 der 144 ursprünglichen Teilnehmer einer dreiarmigen randomisierten Kurzzeitstudie - zwei Arme mit Ibuprofen, ein Arm Plazebo - konnten zehn Jahre nach der Operation erneut nachbeobachtet werden. Von den 13 Revisionseingriffen entfallen 12 auf Patienten der ehemaligen Ibuprofen- Gruppen. Die Autoren äußern den Verdacht, dass der hemmende Einfluss der NSAR auf die Knochenbildung die Verankerung der Prothesen im Knochen beeinträchtigen könnte.3

Im Übrigen fehlen, soweit wir die Literatur überblicken, auch für die perioperative Strahlentherapie, die ebenfalls als wirksam gilt zur Vorbeugung heterotoper Ossifikationen und die mitunter bei Kontraindikationen gegen NSAR empfohlen wird, aussagekräftige randomisierte kontrollierte Studien zum klinischen Nutzen und zur Sicherheit.

  • Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) senken in randomisierten kontrollierten Studien das Risiko einer radiologisch feststellbaren heterotopen Ossifikation nach Hüftgelenksersatz.
  • Nach einer ersten auf klinisch relevante Parameter angelegten randomisierten kontrollierten Studie hat Ibuprofen (BRUFEN u.a.) trotz deutlicher Senkung der radiologisch entdeckten Knochenneubildung keinen Einfluss auf Schmerzen oder Funktion nach Hüftgelenksersatz.
  • Schwere Blutungen sind unter Ibuprofen jedoch häufiger.
  • Auch die Langzeitsicherheit der NSAR-Prophylaxe ist ungeklärt. Es besteht aber der Verdacht, dass NSAR die Prothesenverankerung beeinträchtigen könnten.
  • Beim derzeitigen Kenntnisstand ist von der Prävention abzuraten. Auch Patienten mit hohem Risiko schwerer heterotoper Knochenneubildung sollten angesichts der Datenlage nur in randomisierten kontrollierten Studien mit klinischen Endpunkten behandelt werden.

© 2006 arznei-telegramm

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