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Korrespondenz

AGGRENOX NACH SCHLAGANFALL? LEITLINIEN UND STANDARD

In der Münchner Medizinischen Wochenschrift war zu lesen, dass die Leitlinien der Neurologen den Einsatz von AGGRENOX bei Patienten mit erhöhtem Insultrisiko vorsehen. Meiner Ansicht nach ist kein sicherer Vorteil gegenüber Azetylsalizylsäure (ASS, ASPIRIN u.a.) in Standarddosierung erkennbar. Wie beurteilen Sie die forensische Bedeutung, wenn man dieser Leitlinie nicht folgen würde und ein Patient unter 100 mg ASS einen Insult erleidet und einen verklagen würde? Man hört ja oft, dass zwar einerseits Therapiefreiheit besteht, aber im Einzelfall das Abweichen von aktuellen Leitlinien als Kunstfehler gewertet werden kann, da Juristen diese oft (ob berechtigt, sei dahingestellt) als allgemeinen State of the Art heranziehen würden.

Dr. med. T. FRENZEL (Facharzt für Innere Medizin)
D-97828 Marktheidenfeld
Interessenkonflikt: keiner

Grundlage für die Empfehlung der Kombination von Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) plus retardiertem Dipyridamol (in AGGRENOX) in der Sekundärprophylaxe nach ischämischem Insult oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) ist nach wie vor allein die ESPS*-2-Studie.1 Die Kombination senkt hier bei Patienten mit kurz zurückliegendem ischämischen Schlaganfall oder TIA das Risiko eines (erneuten) Schlaganfalls im Vergleich mit ASS allein innerhalb von zwei Jahren signifikant von 12,9% auf 9,9%. Hinsichtlich der Sterblichkeit findet sich kein Unterschied.1 Neben anderen Mängeln ist der wichtigste Einwand gegen die Validität der ESPS-2-Studie, dass AGGRENOX mit ASS in einer Tagesdosis von zweimal 25 mg verglichen wird. Die Äquivalenz dieser Dosis mit der zur Thrombozytenaggregationshemmung besser dokumentierten ASS-Dosis von mindestens täglich 75 mg ist nicht hinreichend nachgewiesen.2 Hinzu kommt, dass die ESPS-2-Studie auch knapp zehn Jahre nach Publikation isoliert dasteht, der Befund also bislang nicht bestätigt wurde (vgl. a-t 2002; 33: 64).3 Auch die kardiale Sicherheit von Dipyridamol (in AGGRENOX) ist unseres Erachtens bislang nicht hinreichend nachgewiesen.

*

ESPS = European Stroke Prevention Study

Leitlinien: Trotz dieser unzureichenden Evidenz hat AGGRENOX Eingang gefunden in nationale und internationale Leitlinien,4-9 die sich allerdings in ihren Empfehlungen beträchtlich unterscheiden:

In der neuen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) wird AGGRENOX mit "mittlerer Empfehlungsstärke" (B) für Schlaganfallpatienten mit hohem Rückfallrisiko empfohlen. Diese Empfehlung basiert auf einer nachträglichen Subgruppenanalyse der ESPS-2-Studie, die mit einem bislang nicht validierten Score definiert wurde. Eine solche retrospektive Subgruppenanalyse ist jedoch ohne Aussagekraft. Mit "hoher Empfehlungsstärke" (A) wird der Monotherapie mit ASS (50 mg bis 150 mg/Tag) neben AGGRENOX und Clopidogrel (PLAVIX u.a.) Wirksamkeit in der Sekundärprävention des Schlaganfalls attestiert.**4

**

Obwohl es sich bei dieser Aussage formal um eine Empfehlung handelt - auch in der Auflistung der "wichtigsten Empfehlungen" taucht sie auf - wird inhaltlich gar keine Empfehlung ausgesprochen, sondern allenfalls die Evidenz beschrieben. Eine solche Inkonsistenz bei der Formulierung einer "Empfehlung" ist für den Nutzer unbrauchbar.

In der aktuellen Leitlinie des American College of Chest Physicians (ACCP) zur antithrombotischen Therapie nach ischämischem Schlaganfall wird als Grad-1-Empfehlung - eine Empfehlung, die mit großer Sicherheit ausgesprochen werden kann - ein Thrombozytenaggregationshemmer empfohlen. Low-dose- ASS (50 mg bis 325 mg), AGGRENOX und Clopidogrel werden hierbei (ohne ausdrücklichen Empfehlungsgrad) als akzeptable Optionen der initialen Therapie auf eine Stufe gestellt ("are all acceptable options"). Als Grad-2- Empfehlung, eine Empfehlung, die mit größerer Unsicherheit behaftet ist, wird AGGRENOX der Monotherapie mit ASS vorgezogen.5

In einer schottischen Leitlinie wird mit dem höchsten Empfehlungsgrad (Grad A) zu Low-dose-ASS allein in einer Dosierung von täglich 75 mg bis 300 mg geraten. Als eine "weichere" Empfehlung (Grad C, z.B. Expertenmeinung) sollen täglich zweimal 200 mg retardiertes Dipyridamol zusätzlich zu ASS speziell bei Patienten mit Rezidiv trotz ASS in Betracht gezogen werden.6 Belege dafür, dass diese Patientengruppe einen Vorteil von der Kombination hat, gibt es aber nicht.

Eine vierte Empfehlungsvariante wird seit Mai 2005 vom britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) ausgesprochen. Das NICE rät auf der Basis der ESPS-2-Studie, Patienten nach Schlaganfall oder TIA zwei Jahre lang mit AGGRENOX zu behandeln und anschließend auf die Standardbehandlung einschließlich einer lebenslangen Low-dose-ASS-Monotherapie umzustellen.7

Eine neuseeländische Leitlinie8 empfiehlt mit höchstem Empfehlungsgrad (A) täglich 75 mg bis 150 mg ASS für alle Patienten nach ischämischem Schlaganfall oder TIA, die nicht antikoaguliert werden müssen oder eine Kontraindikation gegen ASS haben. Es wird betont, dass für eine Empfehlung von Dipyridamol als Erstwahlmittel - allein oder in Kombination mit ASS - keine hinreichende Evidenz vorliegt. Retardiertes Dipyridamol plus ASS kann bei Hochrisikopatienten einschließlich solcher mit symptomatischer zerebraler Ischämie unter ASS verwendet werden (Empfehlungsgrad B).

Die britische Intercollegiate Stroke Working Party empfiehlt Monotherapie mit Low-dose-ASS (50 mg bis 300 mg/Tag), Clopidogrel und die Kombination aus Low-dose-ASS plus retardiertem Dipyridamol gleichermaßen.9

Haftungsfrage: Eine eventuelle gerichtliche Entscheidung im Haftungsfall lässt sich selbstverständlich nicht vorwegnehmen, grundsätzlich ist aber Folgendes zu bedenken:

 Der Arzt muss in seinen Verordnungen dem medizinischen Standard folgen. Was medizinischer Standard ist, bemisst sich an der wissenschaftlichen Erkenntnis und/oder der praktischen ärztlichen Erfahrung sowie der Akzeptanz in der Profession.10 Eine Leitlinie kann dem Standard entsprechen, muss es aber nicht. Nur für qualitativ hochwertige Leitlinien kann, sofern sie aktuell sind, vermutet werden, dass sie dem Standard entsprechen. Sie würden dann aus mediko-legaler Sicht als verbindlich gelten. Abweichen von solchen Leitlinien, das im Einzelfall immer erforderlich sein kann, muss begründet sein, und die Begründung sollte dokumentiert werden. Als Idealtypus einer qualitativ hochwertigen Leitlinie gilt die evidenzbasierte Konsensusleitlinie. Ob die existierenden S3-Leitlinien der AWMF*** tatsächlich - wie es ihr Anspruch ist - diesem Ideal entsprechen, bleibt zu klären. Ein unterhalb dieser Qualität angesiedelter Leitlinientypus kann keine Verbindlichkeit beanspruchen.10 Den Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Leitlinie entspricht die DGN-Leitlinie nicht. So fehlen beispielsweise jegliche Hinweise auf die Methoden der Evidenzsuche und Bewertung. Auch werden Interessenkonflikte der Leitlinienentwickler nicht deklariert (vgl. a-t 2005; 36: 101). Der federführende Autor der Leitlinie, Hans-Christoph DIENER, hat jedoch vielfältige Firmenverbindungen, darunter auch zum AGGRENOX- Anbieter Boehringer Ingelheim.11

***

AWMF = Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

 Monotherapie mit Low-dose-ASS gehört nach dem derzeitigen Stand der Kenntnis sowie nach der "Akzeptanz der Profession", wie sie sich in den zitierten Leitlinien spiegelt, nach wie vor zum Standard der antithrombotischen Therapie nach ischämischem Schlaganfall oder TIA. Die Uneinigkeit über die adäquate ASS-Dosierung sowie über die Wertigkeit der einzelnen Antithrombotika - auch über die von Clopidogrel12 -, wie sie in den widersprüchlichen Empfehlungen zwischen verschiedenen Leitlinien und auch den Unschlüssigkeiten innerhalb einer Leitlinie zum Ausdruck kommt, signalisiert, dass ein einheitlicher Standard derzeit nicht existiert. Die Rechtsprechung verlangt in dieser Situation vor allem eins: den Patienten über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, ihren Nutzen sowie ihre Risiken aufzuklären.10

 Low-dose-ASS (ASPIRIN u.a.; täglich mindestens 75 mg) ist unseres Erachtens Mittel der Wahl in der Sekundärprävention nach ischämischem Schlaganfall oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA).

 Angesichts der unzureichenden Evidenz zu Nutzen und Sicherheit und den widersprüchlichen Leitlinienempfehlungen sehen wir keinen begründeten Zwang, Dipyridamol plus ASS (AGGRENOX) zu verordnen.

 Wenn ein einheitlicher Standard nicht existiert, wie bei der Frage der Thrombozytenaggregationshemmer nach Schlaganfall oder TIA, fordert die Rechtsprechung, den Patienten über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, ihren Nutzen sowie ihre jeweiligen Risiken aufzuklären.

 Grundsätzlich sollte das Abweichen von einer qualitativ hochwertigen Leitlinie, das im Einzelfall immer erforderlich sein kann, begründet sein, und die Begründung sollte dokumentiert werden.

 

 

(R = Randomisierte Studie, M = Metaanalyse)

R

1

DIENER, H.C. et al.: J. Neurol. Sciences 1996; 143: 1-13

M

2

Antithrombotic Trialists' Collaboration: BMJ 2002; 324: 71-86

 

3

SUDLOW, C.: Can. Med. Ass. J. 2005; 173: 1024-6

 

4

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN): Primär- und Sekundärprävention der zerebralen Ischämie; gemeinsame Leitlinie der DGN und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG); verabschiedet Dez. 2004; zu finden unter: http://www.dgn.org

 

5

ALBERS, G.W. et al.: Chest 2004; 126 (Suppl.): 483s-512s

 

6

Scottish Intercollegiate Guidelines Network: Antithrombotic Therapy. A National Clinical Guideline; März 1999; http://www.sign.ac.uk/guidelines/fulltext/36/index.html

 

7

National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE): Clopidogrel and modified-release dipyridamole in the prevention of occlusive vascular events, Mai 2005; http://www.nice.org.uk/pdf/TA090guidance.pdf

 

8

Stroke Foundation New Zealand: Life after Stroke. New Zealand guideline for management of stroke; Nov. 2003; http://www.nzgg.org.nz/guidelines/0037/ACF291F.pdf

 

9

Intercollegiate Stroke Working Party, Royal Colleague of Physicians London: National clinical guidelines for stroke. Second edition; Juni 2004; http://www.rcplondon.ac.uk/pubs/books/stroke/stroke_guidelines_2ed.pdf

 

10

HART, D. (Hrsg.): "Ärztliche Leitlinien im Medizin- und Gesundheitsrecht. Recht und Empirie professioneller Normbildung", Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2005, 23- 116

 

11

http://www.dgn.org/204.0.html

 

12

Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (Hrsg.): "Leitlinien-Clearingbericht ,Schlaganfall'", äzq Schriftenreihe, Band 21, 2005

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