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Im Blickpunkt

NUTZEN UND RISIKEN VON LEITLINIEN ... derzeit 1.000 "Leitlinien" zuviel?

In einem Werbebrief an niedergelassene Ärzte für das Liponsäure-Produkt TROMLIPON 600 bezieht sich die Firma Trommsdorff auf die "Evidenz-basierte Leitlinie", die die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) "zum Umgang mit der diabetischen Polyneuropathie herausgegeben" hat: "Unter Hinweis auf klare Evidenz stuft die DDG den Wirkstoff Alpha-Liponsäure als ,pathogenetisch begründbare Therapie' ein."1 Die Evidenz ist jedoch gerade nicht "klar". Die DDG verweist bei den Empfehlungen zur symptomatischen Behandlung zwar auf diese "pathogenetisch begründbare Therapie", lässt jedoch unerwähnt, dass sich Liponsäure in einer Studie hoher Evidenzklasse zur Therapie der Schmerzen bei diabetischer Neuropathie als wirkungslos erwiesen hat2 - ein typischer Fall von "opportunistischer Evidenz"3, die dem Hersteller die Vorlage für die Bewerbung des "unreinen Plazebos" (a-t 1999; Nr. 8: 81-2) liefert.

Angesichts der anschwellenden Flut wissenschaftlicher Erkenntnis könnten Leitlinien dem praktizierenden Arzt Orientierung und Entscheidungshilfe bieten. Allerdings ist es dann nicht mit Anleitungen getan, die nach dem GOBSAT-Prinzip ("good old boys sitting around a table") zusammengeschrieben werden. Abzugrenzen sind zudem "Manuale", die noch vor der Fertigstellung Firmen zur Nutzung angeboten werden (a-t 2000; 31: 87).

Analog der Beurteilung der Validität klinischer Studien nach den Kriterien der Evidenz-basierten Medizin müssen auch medizinische Leitlinien kritisch bewertet werden. Die Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung (ÄZQ) hat Qualitätskriterien formuliert, die inzwischen im deutschen Raum anerkannt sind. Auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat sich diesen angeschlossen.4

Grundvoraussetzung einer guten Leitlinie ist, dass sie Evidenz-basiert ist. Für die jeweilige Fragestellung ist die beste verfügbare Evidenz systematisch zusammenzustellen und zu bewerten. Daraus abgeleitete Empfehlungen müssen für den Nutzer nachvollziehbar sein. Üblich ist inzwischen die Einteilung der Evidenz in so genannte Evidenzklassen (Hierarchie der Evidenz*), aus denen dann wiederum Empfehlungen unterschiedlicher Stärke (Härtegrade) resultieren.

Um die gesamte zur Verfügung stehende Evidenz zu berücksichtigen, muss im Grunde - sofern nicht bereits vorhanden - eine systematische Übersichtsarbeit angefertigt werden.5 Gibt es aber - wie beispielsweise im Bereich der Allgemeinmedizin - viele relevante Behandlungsansätze, für die keine klinischen Studien vorliegen oder nur solche minderer Qualität,6 muss Expertenkonsens an die Stelle der Evidenz aus klinischen Studien treten. Auch hierfür gibt es methodische Qualitätsanforderungen, um systematische Verzerrungen der Empfehlungen weitgehend zu vermeiden. Wie bei renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften inzwischen etabliert, sind Interessenkonflikte der Autoren (z.B. Beraterverträge oder Gutachtertätigkeiten für Firmen, deren Produkte in der Leitlinie empfohlen werden) zu deklarieren. Die Akzeptanz einer Leitlinie wird dann am höchsten sein, wenn die für ihre Umsetzung relevanten Gruppen an der Erstellung beteiligt sind.

ÄZQ und AWMF erachten daher die Evidenz-basierte Konsensus-Leitlinie für die mit der höchsten wissenschaftlichen und politischen Legitimation. Für den Juristen bedeutet dies, dass solche Leitlinien dem ärztlichen Standard entsprechen (vgl. Originalbeitrag von HART ab Seite 93). Folgt der Arzt einer solchen Leitlinie, ist er haftungsrechtlich auf der sicheren Seite. Hierin liegen die Chancen der Leitlinien. Behandelt der Arzt nicht entsprechend der Leitlinie, setzt er sich prinzipiell dem Vorwurf mangelnder Sorgfalt aus. Das Dilemma liegt jedoch darin, dass der Begriff ,Leitlinie' inflationär verwendet wird. Auch gibt es bislang keine Evidenz-basierte Konsensus-Leitlinie. Die rund 1.000 existierenden Leitlinien von AWMF und anderen Gremien genügen nicht den Qualitätsanforderungen. Ihnen am nächsten kommt die Musterleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) - Brennen beim Wasserlassen.7 Entsprechend dem zu Grunde liegenden Konzept beinhaltet sie auch Implementierungshilfen und Patienteninformationen.6 Von solchen Ausnahmen abgesehen muss sich der Arzt momentan jedoch durch einen Dschungel von Leitlinien überwiegend minderer Qualität kämpfen.

Überhaupt muss eine Leitlinie zunächst gefunden werden - was nicht einfach ist - und dann vom Nutzer zum Beispiel anhand der von der ÄZQ entwickelten Checkliste bewertet8 und auf aktuellen Stand der Erkenntnis überprüft werden. Zwar hat jede gute Leitlinie ein "Verfallsdatum", aber auch schon vorher können neue Erkenntnisse die Aussagekraft relativieren. So gibt das Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN) an, für die Erstellung ihrer als vorbildlich geltenden Leitlinien mindestens zwei Jahre zu benötigen.9 Je nach Fragestellung kann nach dieser Zeit bereits eine Aktualisierung beziehungsweise Überarbeitung erforderlich sein.

Ein besonderes Problem sind sich widersprechende Empfehlungen verschiedener Leitlinien zur gleichen Fragestellung, wie etwa bei denen zur medikamentösen Therapie des Bluthochdrucks von der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft10 und der Hochdruckliga11. Ein Teil der Diskrepanzen dürfte sich auflösen, wenn die vereinbarten Qualitätskriterien tatsächlich eingehalten werden. Angesichts der Konsensus- Komponente werden jedoch Widersprüche bestehen bleiben. Fragen nach der klinischen Relevanz untersuchter Endpunkte oder beispielsweise danach, welche methodischen Mängel Studien für eine Leitlinie irrelevant machen, werden auch künftig zu unterschiedlichen Empfehlungen führen.

"Worst case" ist derzeit, dass eine Leitlinie ein Arzneimittel oder eine Methode empfiehlt, die durch Entscheidung des Bundesausschusses Ärzte Krankenkassen aus dem Leistungskatalog der GKV ausgeschlossen sind - wie etwa die in der Tinnitus-Leitlinie12 als Behandlungsmethode aufgeführte hyperbare Sauerstofftherapie. Doch gerade die Klärung solcher Widersprüche wird zu besseren Leitlinien und hoffentlich zu einer besseren Qualität der medizinischen Versorgung beitragen - was allerdings zu überprüfen bleibt. Leitlinien wären dann über den Verdacht erhaben, es handele sich vorwiegend um Instrumente zur Reglementierung und Kontrolle.

Wegen des enormen Aufwandes bei der Erstellung einer Evidenz-basierten Konsensus-Leitlinie - von 300.000 DM bis 500.000 DM wird ausgegangen - sind diese nur für ausgewählte Fragestellungen machbar. Prioritäten müssen somit festgelegt werden. Bei der dann abzusehenden geringen Zahl valider Leitlinien wird sich das Problem des Leitlinienwirrwarrs von selbst erledigen.

AWMF und andere Gremien wären gut beraten, die vorhandenen Leitlinien nicht nur zu überprüfen, sondern diejenigen, die qualitativen Mindestanforderungen nicht genügen, unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen. Dies würde bestehende Unsicherheiten abbauen und zur Rechtssicherheit beitragen.

© 2000 arznei-telegramm

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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